or dem Glaskasten steht ein Mädchen, eine Hand fest in der ihrer Mutter. Ihre Augen wandern gebannt zwischen dem Hundeskelett im Kasten und der Zeichnung des lebendigen Tieres mit dem braungrau gebänderten Fell und den Knickohren hin und her. „Mama …”, fragt sie schließlich, „wird unser Bobby auch mal so aussehen, wenn er tot ist?”
Die Hündin in dem Glaskasten heißt Hatch. Als das Schiff „Mary Rose” 1545 im Solent, einem Seitenarm des Ärmelkanals, versank, ging das Tier mit unter. Taucher entdeckten sein Skelett an Bord, als sie das Schiff 1982 bargen. „In der Ausstellung findet jeder Besucher etwas, das ihn besonders berührt”, sagt der Archäologe Chris Dobbs, der vor 32 Jahren bei der Bergung mit dabei war. „ Vielleicht weil vieles so alltäglich ist, dass es aus dem eigenen Leben stammen könnte.” Für das Mädchen ist es der Hund Hatch, weil er sie an ihren eigenen Hund erinnert.
Ein Hund schreibt Geschichte
Hatch ist der wohl bekannteste und am besten erforschte Hund des Tudor-Zeitalters – einfach weil er Schiffshund auf dem bekanntesten und am besten erforschten Schiff der Tudor-Zeit war. Die Mary Rose war der Stolz der englischen Seemacht. Heinrich VIII. ließ sie bereits als junger Mann bauen – denn als er im April des Jahres 1509 den Thron bestieg, erbte er von seinem Vater bloß die traurigen Reste einer Seeflotte. Doch die Franzosen und die Schotten bedrohten das Königreich. Und Heinrich brauchte die Vorherrschaft auf See, um mit den beiden Mächten fertig zu werden.
1511 lief die Mary Rose vom Stapel und kam schon ein Jahr später zum ersten Mal unter französisches Feuer. Im Ärmelkanal attackierte die Royal Navy unter dem Kommando von Lord High Admiral Sir Edward Howard die feindliche Flotte. Als Flaggschiff für den Angriff wählte Howard die neue Mary Rose. Nach siegreicher Schlacht und anschließender Plünderungstour durch die Bretagne kehrte er als Held nach Southampton zurück – und der junge König kam persönlich angereist, um seinem Lord High Admiral zu gratulieren.
Die kommenden 33 Jahre leistete die Mary Rose gute Dienste – bis zum 19. Juli 1545: Die Franzosen segelten mit rund 128 Schiffen in die Mündung des Solent. Darüber, was dort genau passierte, gehen die historischen Quellen auseinander. Vielleicht war es ein Treffer aus einer französischen Kanone oder ein unglückliches Wendemanöver, bei dem durch die untersten Geschützpforten der Kanonen Wasser an Bord schwappte. Sicher ist nur: Die Mary Rose neigte sich stark zur Seite – und sank.
Drei Jahrzehnte nach ihrer Bergung ist sie seit Mai 2013 für die Öffentlichkeit zu sehen. Über ihr Trockendock auf den Historic Dockyards von Portsmouth haben die Ausstellungsmacher einen Museumsbau gestülpt, in dem die Besucher Deck für Deck das gesamte Schiff abschreiten können. In jedem dieser Stockwerke sind die Funde so angeordnet, wie sie die Taucher an Bord des Wracks aufgesammelt haben.
35 Männern gelang es beim Untergang der Mary Rose, das sinkende Schiff zu verlassen. Hunderte andere riss das 45 Meter lange Segelschiff mit in die Tiefe. Genau wie Hatch. Mit ihren 18 bis 24 Monaten muss sie noch eine verspielte Junghündin gewesen sein, die eifrig bei den Matrosen und Soldaten um Aufmerksamkeit und Essensreste bettelte. Doch in erster Linie hatte sie, wie alle anderen Besatzungsmitglieder, eine feste Aufgabe zu verrichten. Und die hieß: Ratten fangen. Die Untersuchung ihrer DNA zeigte, dass sie dafür bestens geeignet war. Der Vater der jungen Hündin war ein Terrier – gezüchtet, um Kaninchen, Füchse oder Dachse bis in ihre unterirdischen Bauten zu verfolgen. Ihre Mutter war ein Whippet, ein auf die Kaninchenjagd spezialisierter Windhund. Mit diesen Genen ausgestattet dürfte es Hatch eine wahre Freude gewesen sein, den Ratten bis in die letzten Winkel des Schiffs nachzujagen.
Dabei war sie ziemlich erfolgreich, wie die Archäologen feststellten: Denn sie bargen auf der Mary Rose ungewöhnlich wenige Rattenskelette. In späteren Zeiten erledigten meist Katzen diesen Job. Doch die hatten in den Tagen von Heinrich VIII. keinen guten Ruf. 1484 erklärte sie Papst Innozenz VIII. zu unheiligen Tieren – weil sie angeblich mit Hexen im Bunde standen. Für die folgenden 200 Jahre waren sie weder zu Wasser noch zu Land gern gesehen. Also wurde für die Mary Rose ein Hund angeheuert.
Hatch und der grimmige Zimmermann
„Wir fanden Hatch an der Klappe, mit der die Kabine des Zimmermanns verschlossen war”, erinnert sich Dobbs. Der Großteil des Hundeskeletts lag vor dem Eingang, einige Knochen fanden sich auch in der Kabine. Möglicherweise hatten hungrige Fische an der ertrunkenen Hündin geknabbert und Teile des Tiers durch die Klappe nach drinnen geschleppt. „So kam sie zu ihrem Namen – Hatch, die Klappe.”
Vielleicht war der Schiffszimmermann Hatchs Herrchen. Über ihn ist mehr bekannt als über den Hund. Trotzig blickt er in die Augen der Besucher – dank moderner forensischer Methoden. Forscher der Swansea University fertigten mit einem Laserscanner ein 3D-Modell seines Schädels an. In 48 Stunden schälte ein 3D-Drucker die Kopie aus einem Block Hartplastik. Der Schwede Oscar Nilsson, Experte für polizeiliche Gerichtsrekonstruktionen, formte anschließend aus Modelliermasse Muskeln und Sehnen auf dem Schädel und überzog sie mit künstlicher Haut. Pore um Pore pflanzte er dem Zimmermann sogar Bartstoppeln ins Gesicht.
Das Ergebnis macht Gänsehaut: Der Mann, der 437 Jahre lang auf dem Meeresboden lag, schaut unter seinen Schlupflidern die Besucher grimmig an. Missmutig könnte er tatsächlich gewesen sein: Er hatte wohl ziemliche Zahnschmerzen. Denn in seinem linken Oberkiefer gärte ein Abszess. Kauen konnte er nur noch auf der rechten Seite. Außerdem waren Wirbelsäule und Rippen von Arthritis gezeichnet. Der Zimmermann maß 1,70 Meter und war zwischen Mitte und Ende 30, als er starb. Doch nicht als armer Schlucker: Für damalige Verhältnisse war er ein reicher Mann. Er aß von Zinngeschirr, während andere Besatzungsmitglieder ihr Essen aus Holztellern löffelten.
Die Taucher fanden das Zinngeschirr in seiner Truhe in der Kabine, zusammen mit ein paar Silbermünzen, etwas Schmuck, einem Buch – die Seiten waren als matschiger Klumpen erhalten –, einer Börse und einer kleinen Sonnenuhr in einem Lederkästchen.
„Diese Truhe habe ich damals gefunden”, lächelt Dobbs. „Ich war nach 437 Jahren der Erste, der ihren Deckel öffnete – da drüben auf dem Bildschirm kann man mich dabei sehen.” Neben der Vitrine läuft ein Video mit den Unterwasseraufnahmen von der Bergung 1982. Auf dem Bildschirm berichtet ein 30 Jahre jüngerer Dobbs mit wildem Lockenkopf von seiner Entdeckung.
Dass Hatch’s Herrchen Zimmermann war, schlossen die Archäologen aus den Werkzeugen, die in der Kabine verstreut lagen. Sie fanden Hammer, Hobel und Lineale. Und sie entdeckten eine Leidenschaft des Mannes: das Spielen. Er besaß ein Backgammonbrett und Würfel. Ein Detail aber sagt mehr über ihn als all sein Besitz: In die Außenwand seiner Kabine hatte er ein Fenster gesägt – mit Sicherheit ohne Erlaubnis.
Außer dem Zimmermann hat Oscar Nilsson bislang acht weiteren Crewmitgliedern ihr einstiges Antlitz zurückgegeben, darunter dem Koch und dem Schatzmeister. Das sind 9 von über 400 Männern, die an Bord der Mary Rose starben. Als die Taucher das Schiff bargen, fanden sie noch 179 weitere, 92 Skelette waren fast komplett. Alle stammen von Männern – der jüngste gerade 13 Jahre alt.
Unter diesen Toten befand sich auch ein Trupp von Heinrichs Elite-Kriegern: die Langbogenschützen. Sie waren Meister einer fürchterlichen Waffe. Wer es schaffte, die Sehne aus Flachs mit einem Zuggewicht von 36 Kilogramm voll zu spannen, konnte mit den Pfeilen Kettenhemden, Rüstungen und sogar Eichenplatten durchschlagen. Für die Herstellung der schlagkräftigen Waffe wurde aus einem Eibenstamm ein über 1,80 Meter langes Stück herausgeschält. Dessen Rückseite – um die sich später die Hand des Schützen schloss – war aus einem einzigen Jahresring geformt. Das machte den Bogen besonders bruchfest.
Der Angriff erfolgte im Stakkato. Ein ausgebildeter Langbogenschütze ließ in der Minute etwa zwölf Pfeile auf seine Feinde regnen. Dass mindestens eine Einheit dieser gefürchteten Bogenschützen auf der Mary Rose war, ist offensichtlich. An Bord stapelten sich 250 Langbögen – 137 gänzlich erhalten – und über 3500 Pfeile, die meisten davon aus Pappelholz.
Ziehen, lösen, üben!
Zwei nachgefertigte Modelle der Langbögen, die elektronisch den Pfeilflug messen, stehen im Museum: einer in Originalgröße und einer in kleinerer Version – für Kinder zum Ausprobieren: Linke Hand ausstrecken und um den Bogen legen, Pfeil zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand klemmen. Ziehen. Noch mehr ziehen – und lösen! Trotz aller Anstrengung wäre der Pfeil vermutlich unterwegs verhungert. Und das soll zwölf Mal pro Minute möglich gewesen sein – im Abstand von nur fünf Sekunden? Alle Achtung!
Um den Englischen Langbogen zu beherrschen, mussten die Anwärter schon in jungen Jahren mit dem Training beginnen. Die tägliche Extrembelastung hinterlässt ihre Spuren am Skelett – besonders an den Schulterknochen und im unteren Bereich der Wirbelsäule.
Nick Owen ist Biomechaniker an der Swansea University und kennt sich mit Belastungsschäden bestens aus. Normalerweise sind seine Forschungsobjekte quicklebendig: Er untersucht Bobfahrer, Rugbyspieler und Schwimmer. Diese Studien waren denn auch sein Ausgangspunkt, als er Auffälligkeiten an einigen der Skelette von Bord der Mary Rose entdeckte. „Ich habe mich gefragt: Wenn diese Elite-Bogenschützen heute leben würden und mit ihren Problemen zu mir kämen – was würde ich sehen?”
Also bat Owen moderne Langbogenschützen und Mittelalter-Enthusiasten um Hilfe. Er ließ sie Bögen spannen und analysierte dabei ihre Bewegungen und die Wirkung der Kräfte auf Muskeln und Sehnen. Die Vergleiche mit den 3D-Scans der auffälligen Knochen von der Mary Rose machten deutlich: Mindestens zwei der Toten müssen zu den Elite-Soldaten Heinrichs VIII. gehört haben.
Der eine dürfte mit einer Größe von 1,79 Meter viele seiner Zeitgenossen überragt haben. Der etwa 20-jährige Mann war kräftig gebaut und besaß sehr stämmige Beine. Die Mitte seiner Wirbelsäule war leicht verdreht, weshalb seine rechte Schulter tiefer hing als die linke. Diese Missbildung entsteht, wenn die Schultern viele Jahre hinweg ungleichmäßig belastet werden. Wahrscheinlich starb der junge Mann mit der Waffe in der Hand. Neben ihm lag ein Langbogen.
Reicher und höher im Rang?
Der zweite Schütze – zwischen 20 und 30 Jahre alt – war mit 1,84 Meter noch ein Stück größer als seine Gefährten. Auch sein Skelett zeigt die Folgen außergewöhnlicher Belastung. Um ihr Handgelenk zu schützen, tragen Bogenschützen normalerweise einen Schoner aus Leder. Am Handgelenk des Hünen fanden die Taucher jedoch eine Schutzplatte aus Elfenbein. Den Silberring an seinem Finger sowie einen Zinnteller werten sie als weitere Indizien dafür, dass er in der Rangordnung an Bord höhergestellt war. Ein Befehlshaber der Elitetruppe?
Die Suche nach der Identität der Bogenschützen ist noch nicht zu Ende. Gerade hat Owens Kollegin, die Biologin Sarah Forbes Robertson, den Knochen Proben entnommen für weitere DNA-Untersuchungen. Nicht kontaminiertes Erbgut zu extrahieren ist allerdings keine leichte Aufgabe. Denn in den Jahrhunderten unter Wasser haben Muscheln und andere Meeresbewohner ihre DNA auf der Skelettoberfläche hinterlassen.
Forbes Robertson bohrte feine Löcher bis ins Innere der Knochen, um an die DNA der Bogenschützen zu kommen. Jetzt hofft das Team aus Swansea, bald mehr über die Augen- und Haarfarbe der Soldaten zu erfahren – und vielleicht noch lebende Nachfahren ausfindig zu machen. Aus historischen Dokumenten ist bekannt, dass viele von Heinrichs Elite-Schützen aus Wales kamen. Die Suche nach den Nachkommen wäre also regional begrenzt. „Das Projekt liegt zwar noch in weiter Ferne”, meint Owen, „aber in der Theorie ist es möglich.”
Schiff hinter Glas
Die Hündin Hatch, der Zimmermann, der Koch, der Schatzmeister, die Bogenschützen – sie alle haben einen eigenen Glaskasten in der Ausstellung bekommen. Der größte ist dem Schiff selbst vorbehalten. Chef-Konservatorin Eleanor Schofield steht vor einem der Fenster in die große Halle und blickt liebevoll auf das Wrack hinunter: „Jetzt ist es fast fertig.” Damit meint sie nicht etwa einen Nachbau, sondern die Trockenlegung des Schiffsrumpfs, von dem über ein Drittel erhalten ist. Selbst diese kläglichen Reste wirken gewaltig. Voll bestückt mit Kanonen hinter jeder Luke muss die Mary Rose zur Tudor-Zeit einen furchteinflößenden Anblick geboten haben – eine todbringende schwimmende Festung.
„Wenn die Besucher die Halle betreten, können sie bis ans Schiff herangehen”, erklärt Schofield. Doch bis es so weit ist, wird noch einige Zeit vergehen. Dabei hatten die Konservatoren sofort nach der Bergung mit der Arbeit begonnen. Vorher schlummerte das Holz unter einer dicken Schicht aus Schlick sicher auf dem Meeresgrund. Dort unten konnten weder Schiffsbohrwürmer noch Pilze und Mikroben den Planken etwas anhaben – denn sie alle brauchen Sauerstoff zum Überleben. Unter dem feinen Schlick lag das Wrack luftdicht verschlossen wie in einer Tupperdose.
Doch mit der Bergung kam der Sauerstoff – und damit das Verderben. Hätte man das Holz getrocknet, wäre es zwar vor Pilzen und Mikroorganismen verschont geblieben. Aber das Wasser hatte es aufgeweicht und die Struktur verändert. Die Planken wären beim Trocknen drastisch geschrumpft und im schlimmsten Fall gesplittert. Bald wäre von der Schiffswand nur ein Haufen Brennholz geblieben. Dauerhaft feucht konnte man das Holz auch nicht lassen. Dann hätten die Pilze und Bakterien ein schönes Leben gehabt, weil es für sie immer reichlich zu fressen gegeben hätte.
Ein Kühlschrank für ein Schiff
Doch Not macht erfinderisch: Die Konservatoren bauten eines der Trockendocks im Hafen von Portsmouth in einen gigantischen Kühlschrank um. Zwischen zwei und fünf Grad Celsius herrschten darin – im Sommer wie im Winter. Sie besprühten das Holz mit Eiswasser, sodass es stets von einer millimeterdünnen Wasserschicht bedeckt war. Die niedrigen Temperaturen verhinderten einen Pilzbefall.
Höchstens vier Stunden am Tag durfte der Sprühregen abgestellt werden, damit die Wissenschaftler an dem Wrack arbeiten konnten, ohne sich zu erkälten. Gegen die Holzschädlinge setzten sie unter anderem Schlammschnecken (Lym- naeidae) ein. In Horden ließen sie die Tiere über die Oberfläche der Mary Rose kriechen, wo diese sich an Pilzen und Mikroben sattfraßen. Das Holz selbst knabberten sie nicht an. Zwölf Jahre – bis 1994 – dauerte diese Phase.
Doch langfristig sollte das Wrack trockengelegt werden. Dazu ersetzten die Restauratoren das Wasser in den Holzzellen durch Polyethylenglycol (PEG 200), ein ungiftiges Polymer. Das ließen sie zunächst auf die Planken regnen. Da PEG 200 eine relativ niedrige Molekülmasse hat, wurde es vom Holz rasch aufgesaugt. Nach und nach verdrängte das Polymer das Wasser in den Zellen. 2004 war es dann soweit: Kein einziger Tropfen Flüssigkeit steckte mehr in der Mary Rose.
Doch es gab einen Problem: Vollgesogen mit PEG 200 war das Holz klebrig, ein guter Untergrund für Staub und Schmutz. Also begann die nächste Phase der Konservierung – eine Dusche mit PEG-2000, das eine höhere Molekülmasse besitzt und die Oberfläche nicht verklebt. Vor drei Jahren war das Holz vollständig damit gesättigt. Seither darf das Schiff langsam trocknen. „Wir wissen noch nicht, wann der Trockenprozess zu Ende sein wird.” Schofield zuckt gelassen die Achseln. „Ursprünglich haben wir geschätzt, dass es vier Jahre dauern wird – aber jetzt warten wir erst einmal die Ergebnisse der kommenden Untersuchungen ab.”
Die fragile Schiffshülle ist wie ein ständig kränkelnder Patient. Nicht nur die Mikroorganismen machen ihr zu schaffen, sondern auch Schwefel und Eisen. Die sind Gift für das Holz, da sie Säuren bilden können. Der Schwefel gelangte durch biologische Reaktionen auf dem Meeresgrund ins Holz, das Eisen stammt von ehernen Artefakten. Schofield und ihr Team rücken dieser Gefahr mit Strontiumkarbonat-Nanopartikeln auf den Leib und neutralisieren damit die Säuren.
Das Verfahren wurde eigens für die Mary Rose entwickelt. Künftig soll es auch bei anderen Funden eingesetzt werden, die von Säurebildung durch Schwefel bedroht sind – von Schiffswracks über Seidentapeten bis hin zu alten Papyri. Das Strontiumkarbonat bleibt am Ende gefahrlos im Material. „Es gibt hier noch so viele unerforschte Anwendungsbereiche, dass ich in den kommenden Jahren eine ganze Reihe von Doktorarbeiten vergeben möchte”, plant Schofield. „Die Mary Rose ist ein wunderbarer Ort, um zu forschen.”
Ein Meisterwerk der Handwerkskunst
Das kleine Mädchen ist mit seiner Mutter mittlerweile am anderen Ende des Raums angekommen, aber seine Augen wandern immer wieder zurück zu Hatch – der Hund lässt sie nicht los. Welcher der vielen Funde hat denn Chris Dobbs besonders bewegt? „Einer, der eigentlich ganz unspektakulär ist: ein Spaten.” Er geht hinüber zu einem Glaskasten und zeigt auf das Holzwerkzeug, das ganz hinten in der Ecke lehnt.
„Es ist seine Bauweise. Er ist aus einem einzigen Stück Holz gefertigt.” Der Archäologe breitet die Arme aus. „Jemand hat sich das Holz genau angeschaut und dann die Form des Spatens herausgeholt.” Dadurch ist das Werkzeug äußerst stabil. Die Jahrhunderte unter Wasser konnten ihm kaum etwas anhaben, weil die Form dem natürlichen Wachstum des Baums gefolgt ist. „So etwas wird heute nicht mehr gemacht.”
Dieser tiefe Einblick in das Handwerk der Tudor-Zeit hat Seltenheitswert. Zu Land haben solche hölzernen Gegenstände kaum die Jahrhunderte überdauert. Früher oder später endeten sie alle im Herdfeuer oder auf dem Müll. „Dieses ganze Schiff ist eine einzige riesige Zeitkapsel und damit ein unglaublicher Glücksfall” , freut sich Dobbs. „Es geht hier weniger um die einzelnen Funde, sondern darum, dass wir an Bord direkt in die Tudor-Zeit eintauchen.” •
ANGELIKA FRANZ, Archäologin und freie Journalistin, lebt in Hamburg. Das kleine Mädchen in der Geschichte ist ihre Tochter.
von Angelika Franz