Klebstoffe gelten als eines der frühesten Zeichen der kulturellen Evolution des Menschen. Eine Studie legt nun nahe, dass bereits die Neandertaler komplexe Klebstoffe herstellten. An mehr als 40.000 Jahre alten Steinwerkzeugen aus einer Fundstätte in Frankreich haben Forschende Spuren eines Klebstoffs aus Bitumen und Ocker festgestellt. Wahrscheinlich nutzten Neandertaler die Mischung, um ihre Steinwerkzeuge mit Griffen zu versehen. Dabei könnte der Ocker dafür gesorgt haben, dass der fertige Griff nicht an den Händen klebte.
Die ersten Steinwerkzeuge schufen unsere frühmenschlichen Vorfahren wahrscheinlich schon vor rund 2,6 Millionen Jahren. Ab wann die Herstellung solcher Steinhämmer und Klingen allerdings bewusst und zielgerichtet erfolgte, ist unklar. Ein deutliches Zeichen für einen kulturtechnologischen Prozess ist dagegen die Verwendung von Klebstoff, beispielsweise um Werkzeuge mit Griffen zu versehen. Von Neandertalern ist bekannt, dass sie Birkenpech nutzten, das sie wahrscheinlich bereits vor 80.000 Jahren gezielt herstellten.
Fund im Museum
Noch einen Schritt weiter gehen Klebstoffe, die sich aus mehreren Zutaten zusammensetzen. „Vom afrikanischen Homo sapiens ist bekannt, dass er zusammengesetzte Klebstoffe aus natürlich vorkommenden klebrigen Substanzen und Ocker herstellte, ein technisches Verhalten, von dem angenommen wird, dass es das Aufkommen ausgefeilter kognitiver Prozesse bei unserer Spezies markiert“, erklärt ein Team um Patrick Schmidt von der Universität Tübingen. „In Europa dagegen waren vor Beginn des Jungpaläolithikums vor etwa 40.000 Jahren bisher keine ockerhaltigen Klebstoffe bekannt, weder von Neandertalern noch von den frühesten europäischen Homo sapiens.“ Als Jungpaläolithikum wird die jüngste, letzte Epoche der Altsteinzeit bezeichnet, die mit der Ankunft des Homo sapiens in Europa begann und mit dem Ende der Eiszeit endete.
Doch an mehreren zuvor nicht näher untersuchten Museumsexemplaren hat das Team nun ältere Nachweise von zusammengesetzten Klebstoffen entdeckt. Die Artefakte stammen aus der Fundstelle Le Moustier im heutigen Frankreich, wo vor etwa 120.000 bis 40.000 Jahren Neandertaler lebten. „Die Sammlungsstücke waren einzeln verpackt und seit den 1960er Jahren unberührt. Dadurch waren die anhaftenden Reste organischer Stoffe sehr gut erhalten“, berichtet Schmidts Kollegin Ewa Dutkiewicz. Genau diese organischen Reste weckten das Interesse der Forschenden. Chemische und spektroskopische Analysen ergaben, dass es sich dabei um ein Gemisch aus Ocker und dem klebrigen Rohstoff Bitumen handelte. Bitumen, ein Bestandteil von Asphalt, kann aus Erdöl hergestellt werden, kommt aber auch natürlich vor, teils als zähe Flüssigkeit, teils als luftgetrocknete feste Masse.
Steinzeitliche Klebstoffe selbstgemacht
Zu ihrer Überraschung stellten die Forschenden fest, dass der Ockeranteil der Mischung bei mehr als 50 Prozent lag. „Ein so hoher Ockeranteil beeinträchtigt die Klebeleistung für klassische Einsatzzwecke, bei denen Steinwerkzeuge beispielsweise an Holzgriffe geklebt werden“, erklären Schmidt und seine Kollegen. Aus früheren Funden war allerdings bereits bekannt, dass die Neandertaler die klebrigen Materialien oft selbst als Handgriff benutzten, statt damit andere Materialien zu verbinden.
Um herauszufinden, inwieweit verschiedene Mischungen aus Bitumen und Ocker für diesen Einsatzzweck geeignet sind, experimentierten die Forschenden selbst mit den beiden Rohstoffen und testeten die Mischungen auf Klebekraft und weitere Eigenschaften. Dazu nutzten sie natürlich vorkommendes Bitumen aus Frankreich, sowohl in der luftgetrockneten Form, als auch als flüssige Masse. Um das flüssige Bitumen besser nutzbar zu machen, kochten sie es, bevor sie es mit unterschiedlichen Anteilen an Ocker mischten.
Nützliche Mischung
Erwartungsgemäß klebte das luftgetrocknete Bitumen am stärksten und verlor durch Zugabe von Ocker zunehmend seine Klebekraft. Allerdings hatte es einen gravierenden Nachteil: Versuchten Schmidt und seine Kollegen, daraus einen Griff für Steinwerkzeuge zu formen, blieben jedes Mal Teile des Materials an ihren Händen kleben. Zudem war der Griff nicht fest genug und dadurch unbrauchbar. „Anders war es, als wir flüssiges Bitumen einsetzten, das sich pur zum Kleben eigentlich gar nicht eignet“, sagt Schmidt. „Fügt man 55 Prozent Ocker hinzu, erhält man eine formbare Masse.“ Diese ist gerade klebrig genug, um das Steinwerkzeug zu fixieren, wohingegen die Hände sauber bleiben. Zudem verleiht der Ocker dem Material Festigkeit.
Mikroskopische Analysen der Abnutzungsspuren an den Werkzeugen ergaben, dass auch die steinzeitlichen Griffe wahrscheinlich genau auf diese Weise erzeugt und genutzt wurden. „Solche technologischen Entwicklungen und das Verständnis für Materialeigenschaften lassen sich als erster Ausdruck umfassender kognitiver Prozesse der Menschen betrachten, die unserer heutigen Denkweise bei industriellen Prozessen entsprechen“, sagt Schmidt. Wahrscheinlich mussten die Frühmenschen Ocker und Bitumen aus weit voneinander entfernten Orten zusammentragen, was einen großen Aufwand bedeutet, viel Planung erfordert und auf eine gezielte Vorgehensweise hindeutet.
Nicht erst beim Homo sapiens
„Unter Einbeziehung des Fundzusammenhangs gehen wir davon aus, dass das aufwendig produzierte Klebematerial von Neandertalern hergestellt wurde“, sagt Dutkiewicz. Das deutet darauf hin, dass die Neandertaler zu ähnlichen kognitiven Leistungen in der Lage waren wie der frühe Homo sapiens in Afrika. „Beide investierten Zeit und Mühe in die Herstellung von Verbundklebstoffen und verfügten über die erforderlichen kognitiven Fähigkeiten“, schreiben die Forschenden. „Diese Fähigkeit und die Bereitschaft, in Werkzeuge zu investieren, die mit hohem Aufwand verbunden waren, dokumentieren die Komplexität des Verhaltens der Homininen im späten Mittelpaläolithikum.“
Quelle: Patrick Schmidt (Universität Tübingen) et al., Science Advances, doi: 10.1126/sciadv.adl0822