Der Homo erectus hat fast eineinhalb Millionen Jahre lang die Geschichte unserer Vorfahren geprägt, dennoch gibt dieser Frühmensch noch immer einige Rätsel auf. Jetzt werfen zwei neue Funde von Homo-erectus-Fossilien in Äthiopien ein ganz neues Licht auf seine anatomische Vielfalt und die Entwicklung seiner Werkzeugtechnologie. Die beiden in wenigen Kilometern Abstand gefundenen Schädel weichen in Größe und Robustheit stark voneinander ab – was für deutliche Geschlechtsunterschiede oder andere innerartliche Variationen spricht. Gleichzeitig belegen Funde von Steinwerkzeugen, dass diese Frühmenschen offenbar primitive und fortgeschrittene Techniken gleichzeitig nutzten.
Der Homo erectus war der erste Frühmensch, der Afrika verließ und bis ins ferne Südostasien vordrang. Fossilfunde belegen, dass er bereits vor rund 1,8 Millionen Jahren in Georgien lebte und vor gut 1,6 Millionen Jahren auf der Insel Java vorkam. Dort hielt sich seine Art fast eineinhalb Millionen Jahre lang bis vor gut 100.000 Jahren. Seinen Erfolg verdankte dieser Frühmensch wahrscheinlich gleich mehreren technologischen Neuerungen: Er könnte der erste unter unseren Vorfahren gewesen sein, der regelmäßig Feuer nutzte. Zudem entwickelte er als erster komplexe Steinwerkzeuge des sogenannten Acheuléen-Stils. Seine Vorgänger und auch die ersten Vertreter seiner Art bearbeiteten Steine nur einseitig und mit wenigen Schlägen. Das Ergebnis waren die einfachen Geröllgeräte der Oldowan-Kultur, die sich nur wenig von unbearbeiteten Steinbrocken unterschieden. Anders dagegen bei den Werkzeugen des Acheuléen: Sie waren beidseits so abgeschlagen, dass Faustkeile und rechteckige Schneidgeräte mit scharfen Kanten entstanden.
Zwei Schädel mit bemerkenswerten Unterschieden
Jetzt haben Sileshi Semaw vom Forschungszentrum CENIEH im spanischen Burgos und seine Kollegen gleich zwei neue Homo-erectus-Exemplare entdeckt. Es handelt sich um zwei Schädel, die nur wenige Kilometer voneinander entfernt bei Gona im Afar-Dreieck in Äthiopien gefunden wurden. Obwohl diese Gegend als eine Wiege der Menschheit gilt und Wissenschaftler dort schon viele Relikte von Vormenschen aufgespürt haben, sind Funde von Homo-erectus-Fossilien dieser Gegend eher rar. Datierungen ergaben, dass der eher kleine, zierliche “DAN5” getaufte Schädel rund 1,5 bis 1,6 Millionen Jahre alt ist. Der BSN12-Schädel ist rund 1,25 Millionen Jahre alt und deutlich größer und robuster. “Die neuen Relikte zeigen ein Maß der biologischen Variation, die man in Afrika zuvor noch nicht gesehen hat”, sagt Co-Autor Scott Simpson vom Cleveland Museum of Natural History. “Bemerkenswert ist vor allem die geringe Größe des DNA5-Schädels.” Mit einem Innenvolumen von 590 Kubikzentimetern ist er der bisher kleinste in Afrika gefundene Homo-erectus-Schädel – und auch deutlich kleiner als die meisten aus Asien bekannte Schädel dieser Art.
Wie aber kommen diese Unterschiede zustande? “Die anatomische Variation in diesen Exemplaren kann auf unterschiedliche Weise interpretiert werden”, sagen Semaw und seine Kollegen. Zum einen könnte DAN5 wegen seines höheren Alters noch mehr primitivere Merkmale besitzen, darunter auch das kleinere Hirnvolumen. “Alternativ könnten die Unterschiede in Größe und Anatomie, die wir in den Gona-Exemplaren beobachten, auch eine Folge von Geschlechtsunterschieden innerhalb dieser Art sein”, so die Forscher. Gestützt wird diese Annahme eines Sexualdimorphismus von früheren Fossilfunden in der georgischen Dmanisi-Höhle, denn dort hatten Wissenschaftler nahezu gleichalte Erectus-Schädel mit einer ebenfalls überraschend großen Bandbreite an Größen und Merkmalen gefunden.
Werkzeuge zweier Technologie-Stadien
Doch die neuen Funde aus Äthiopien sind aus noch einem Grund besonders interessant: Zusammen mit den Schädeln haben die Forscher auch mehrere Steinwerkzeuge an beiden Fundstellen entdeckt. Ein Teil dieser Werkzeuge war mit der älteren Oldowan-Technik hergestellt und ähnelte eher grob behauenen Flusskieseln. In der gleichen Fundschicht stießen Semaw und sein Team aber auch auf Faustkeile und Handäxte, die schon mit der moderneren Acheuléen-Technik produziert worden waren. Schnittspuren am Beinknochen einer Antilope und dem Fußknochen eines Elefanten belegen, dass die Frühmenschen diese Werkzeuge zum Zerlegen von Beute einsetzten. Ob sie diese selbst erlegt haben oder ob sie nur frische, in der Savanne gefundene Kadaver verwerteten, ist allerdings nicht klar. Das Entscheidende jedoch: Das gleichzeitige Vorkommen von Oldowan- und Acheuléen-Werkzeugen deutet darauf hin, dass die technologische Entwicklung des Homo erectus weniger geradlinig verlief als bisher angenommen.
“Obwohl die meisten Forscher unseres Fachgebiets davon ausgehen, dass die Acheuléen-Technik das frühere Oldowan vor rund 1,7 Millionen Jahre ablöste, zeigt unsere Forschung nun, dass die ältere Technik stattdessen während der gesamten Altsteinzeit weit verbreitet blieb”, sagt Co-Autor Michael Rogers von der Southern Connecticut State University. “Die einfache Sichtweise, nach der eine Homininenart immer nur eine Werkzeugtechnologie nutzte, wird davon nicht gestützt. Die Geschichte der menschlichen Entwicklung ist stattdessen deutlich komplizierter.” Nach Ansicht der Forscher spricht dies dafür, dass der Homo erectus auch in seiner Werkzeugnutzung flexibler und vielseitiger war als bislang angenommen. Dieser Frühmenschen könnte demnach je nach Einsatzzweck und vorhandenem Rohmaterial entschieden haben, ob ein einfaches Oldowan-Werkzeug reichte oder ob er einen komplexeren, aufwändiger herzustellenden Faustkeil oder eine Handaxt benötigte.
Quelle: Sileshi Semaw (CENIEH, Burgos) et al., Science Advances, 2020; doi: 10.1126/sciadv.aaw4694