Lange galt der Neandertaler als der “dümmere” Vetter des Homo sapiens: Man traute dem vor rund 40.000 Jahren ausgestorbenen Homo neanderthalensis weder komplexe Fertigkeiten bei der Werkzeugherstellung oder Jagd zu, noch abstraktes Denken, einen Sinn für Kunst oder aufwändige Rituale. Doch inzwischen ist klar: Die Neandertaler waren unseren Vorfahren keineswegs per se unterlegen, weder im Jagdgeschick, dem Werkzeugbau oder der Kultur. So belegen Funde, dass unsere eiszeitlichen Vettern bereits komplexe Werkzeuge aus Stein und Knochen herstellten, sie trugen Schmuck und könnten sich bei Ritualen sogar bemalt haben. Auch Waffen aus Holz in Form von Speeren haben Archäologen in einigen Orten, unter anderem auch in Süddeutschland, gefunden. Weil Holz aber nur selten lange im Untergrund erhalten bleibt, sind prähistorische Funde von Holzgegenständen generell sehr rar.
Mehrzweckwerkzeuge aus Holz
Umso interessanter sind die Funde, die nun Biancamaria Aranguren von der Archäologiebehörde in Florenz und ihre Kollegen bei Ausgrabungen in Poggetti Vecchi in der Toskana gemacht haben. In einer rund 170.000 Jahren alten Ablagerungsschicht stießen sie auf zahlreiche Faustkeile, Tierknochen und Stücke von mehreren hölzernen Stöcken. Aus der Art der Funde und ihrem Alter schließen die Archäologen, dass diese Hinterlassenschaften von Neandertalern stammen müssen. Eine nähere Untersuchung der Stockfragmente enthüllte, dass die meisten von ihnen aus Buchsbaumholz bestanden – einer der härtesten und beständigsten in dieser Gegend wachsenden Holzsorten. Die Stöcke müssen im intakten Zustand rund einen Meter lang gewesen sein und tragen eindeutige Bearbeitungsspuren, wie die Forscher berichten.
Bei den Buchsbaumstöcken sind alle Seitenäste und vorstehenden Astknorze sorgfältig entfernt worden. Die Stöcke wurden an ihrem dünneren Ende leicht zugespitzt, das dickere Ende ist dagegen abgerundet und zu einer Art Griff geformt. Wie die Archäologen erklären, ähnelt die Form der Stöcke damit den Mehrzweckwerkzeugen, die noch heute von einigen Naturvölkern genutzt werden. “Solche Grabstöcke werden zum Sammeln und Ausgraben von Wurzeln und Knollen verwendet, aber auch als Mörser oder um kleinere Beute zu erlegen, vor allem grabende Tiere”, so Aranguren und ihre Kollegen. “Die Stöcke von Poggetti Vecchi sind die ältesten bisher bekannten Allzweckwerkzeuge dieser Art.”
Mit Feuer bearbeitet
Die Holzstöcke weisen aber noch eine weitere Besonderheit auf: Ihre Oberfläche ist von einer sehr dünnen, rußigen Schicht bedeckt. “Daraus folgern wir, dass zur Herstellung dieser Stöcke nicht nur Steinwerkzeuge, sondern auch Feuer begenutzt worden ist”, sagen die Forscher. Eine Nutzung der Stöcke als Spieße über dem Feuer schließen sie aus, weil dann die Spitzen stärker angesengt sein müssen – und das ist nicht der Fall. Auch die sehr gleichmäßig dünne Rußschicht spricht ihrer Ansicht nach gegen ein zufälliges Anbrennen. “Kratzer und Schnittspuren in den geschwärzten Oberflächen sprechen für das gezielte Ansengen des Holzes im Rahmen einer Bearbeitung”, so die Archäologen. Offenbar setzten die Neandertaler die Buchsbaumäste gezielt kurz dem Feuer aus, um dann Rinde und Astknorze leichter entfernen zu können. “Experimentelle Tests bestätigen, dass Feuer nötig ist, um diese Art Holz so zu glätten und zu Griffen und Spitzen zu formen”, erklären Aranguren und ihre Kollegen.
Die Stockfragmente von Poggetti Vecchi belegen demnach, dass die Neandertaler bereits vor rund 170.000 Jahren gezielt das Feuer einsetzten, um sich hölzerne Werkzeuge herzustellen. Gleichzeitig sind diese Stöcke damit der früheste Beleg überhaupt für den Einsatz von Feuer bei der Werkzeugherstellung. “Das gibt uns neue Einblicke in die kognitiven Fähigkeiten der frühen Neandertaler und ihren Umgang mit Feuer sowie Holz als Werkzeug-Rohstoff”, konstatieren die Archäologen.