Keulenschwingende Unholde – mit dieser Vorstellung von den Neandertalern scheint eine Studie nun endgültig aufzuräumen: Datierungen zufolge sind Höhlenmalereien an drei unterschiedlichen Fundorten in Spanien das Werk unserer archaischen Cousins. Die Bilder von Tieren, Punkten und geometrischen Zeichen sind demnach mehr als 64.000 Jahre alt, entstanden also 20.000 Jahre bevor die ersten modernen Menschen Europa erreicht haben. Die Entdeckung legt nahe, dass die Neandertaler bereits einen ähnlichen Sinn für Kunst besaßen wie wir.
Nach aktuellem Stand der Forschung haben sich der moderne Mensch und der Neandertaler parallel entwickelt. Ihre gemeinsamen Vorfahren waren einst in Afrika entstanden. Einige dieser urtümlichen Vertreter des Menschen wanderten dann nach Europa ein und entwickelten sich dort zum Neandertaler weiter. Aus den in Afrika verbliebenen entstanden währenddessen die anatomisch modernen Menschen. Ab vor etwa 50.000 Jahren verließ der Homo sapiens dann ebenfalls seinen Heimatkontinent, breitete sich nach Europa aus und verdrängte dort schließlich die Neandertaler. Mittlerweile haben genetische Analysen allerdings gezeigt: Die Neandertaler leben in uns weiter. Einige haben sich offenbar mit unseren Vorfahren vermischt, als diese aus Afrika nach Europa einwanderten.
Waren sie so anders als wir?
Seit der Entdeckung der ersten Neandertaler-Fossilien fragen sich Wissenschaftler, wie sich diese Menschenart und der Homo sapiens unterschieden haben. In Forschungsergebnissen der letzten Jahre hat sich immer deutlicher abgezeichnet, dass die Neandertaler dem modernen Menschen durchaus ähnlicher waren als lange vermutet. Es ist beispielsweise belegt, dass sie geschickte Werkzeugmacher waren, ihre Toten bestatteten und sich schmückten. Die Studie unter der Leitung der University of Southampton und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig fügt dem neuen Bild des Neandertalers nun einen wichtigen weiteren Aspekt hinzu.
Ob auch Neandertaler Höhlenkunst geschaffen haben, war bislang unklar, weil keine eindeutigen Datierungen vorlagen. “Höhlenkunst genau und präzise zu datieren, ohne sie dabei zu zerstören, war bisher kaum möglich”, sagt Co-Autor Dirk Hoffmann vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Dies ist den Forschern nun jedoch gelungen und zwar auf indirektem Wege: Sie haben Karbonatkrusten auf den Farbpigmenten mit der Uran-Thorium (U-Th) Methode datiert. Alles, was unter diesen Ablagerungen sitzt, muss älter sein als die Kalkstrukturen selbst, erklären die Wissenschaftler.
Aussagekräftig vordatiert
Im Rahmen der Studie haben die Forscher mehr als 60 Karbonatproben analysiert, die sich auf Werken in drei verschiedenen Höhlen in Spanien gebildet haben: La Pasiega im Nordosten, Maltravieso im Westen und Ardales im Süden Spaniens. Es handelt sich meist um rote, manchmal auch schwarze Malereien, die Tiergruppen, Punkte, geometrische Zeichen sowie positive und negative Handabdrücke darstellen. Auch Felsritzungen zeichnen sich ab.
“Unsere Datierungsergebnisse zeigen, dass die Höhlenkunst an diesen drei Standorten in Spanien viel älter ist als bisher angenommen”, sagt Co-Autor Alistair Pike von der University of Southampton. “Mit einem Alter von mehr als 64.000 Jahren sind sie mindestens 20.000 Jahre älter als die frühesten Spuren des modernen Menschen in Europa. Die Höhlenkunst muss also von Neandertalern geschaffen worden sein”, resümiert der Wissenschaftler das Ergebnis. In der Cueva Ardales belegen zusätzlich auch Bodenfunde die Anwesenheit von Neandertalern.
In den Werken spiegeln sich den Forschern zufolge die komplexen Fähigkeiten unserer Schwester-Spezies wider: Sie mussten für eine Lichtquelle sorgen, Farbpigmente mischen und einen geeigneten Standort auswählen, der vermutlich eine abstrakte Bedeutung hatte. Wie aus den Ergebnissen hervorgeht, handelte es sich offenbar auch nicht um einen Einzelfall: “Wir haben Beispiele in drei Höhlen, die 700 Kilometer voneinander entfernt sind, und Hinweise, dass es sich um eine lange Tradition gehandelt hat. Es ist durchaus möglich, dass ähnliche Kunst in anderen Höhlen in Westeuropa auch von Neandertaler stammt”, sagt Co-Autor Paul Pettitt von der University of Durham.
Noch ältere Spuren entdeckt
In einer zweiten aktuellen Studie präsentieren die Forscher um Hoffmann die Ergebnisse einer weiteren spannenden Datierung: Sie haben das Alter einer archäologischen Fundstätte in der spanischen Höhle Cueva de los Aviones bestimmt. Dort waren durchbohrte Muscheln, rote und gelbe Farbpigmente und Behälter mit Pigmentmischungen entdeckt worden. Wie die U-Th Datierung einer Kalkablagerungsschicht über diesen Funden nahelegt, stammen sie ebenfalls von Neandertalern. “Wir haben die Fundschicht, die unter dem Sinter lag, auf ein Alter von etwa 115.000 Jahren datiert”, sagt Hoffmann. Die Artefakte können somit nur von der damals einzigen in Europa vorkommenden Menschenform stammen – dem Neandertaler.
Unterm Strich zeichnet sich den Forschern zufolge damit nun immer deutlicher ab, dass auch Neandertaler symbolisch denken konnten und sich wohl kognitiv kaum vom modernen Menschen unterschieden. “Auf der Suche nach den Ursprüngen von Sprache und entwickeltem menschlichen Wahrnehmungs- und Denkvermögen müssen wir deshalb viel weiter in unsere Vergangenheit zurückblicken: mehr als eine halbe Million Jahre, auf den gemeinsamen Vorfahren von Neandertalern und modernen Menschen”, sagt Co-Autor João Zilhão von der der University of Barcelona in Spanien, der an beiden Studien beteiligt war.
Quellen: University of Southampton und Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie. Originalveröffentlichungen: Science, doi: 10.1126/science.aap777,
Science Advances, doi: 10.1126/sciadv.aar5255