Gängiger Theorie nach trennten sich die Stammeslinien von Schimpanse und Mensch vor rund fünf bis sieben Millionen Jahren in Afrika. Ab dieser Zeit entwickelten die frühen Homininen allmählich den aufrechten Gang und wurden auch in ihrem Verhalten und Aussehen immer menschenähnlicher. Während der vor rund 4,4 Millionen Jahren in Ostafrika lebende Ardipithecus ramidus und seine Zeitgenossen noch relativ affenähnliche Füße besaßen, belegen die berühmten Fußspuren von Laetoli in Tansania, dass der Vormensch Australopithecus afarensis vor gut drei Millionen Jahren bereits gut aufrecht laufen konnte und auch in seiner Fußanatomie schon menschenähnlich war. Doch wie ihre Vorfahren breiteten sich die Australopithecinen und ihre Verwandten zwar innerhalb Afrikas immer weiter aus, verließen diesen Kontinent aber noch nicht – so zumindest die vorherrschende Lehrmeinung.
Vormenschen auch in Europa?
Doch vor wenigen Monaten zeichnete die Neuanalyse von in Griechenland und Bulgarien gefundenen Fossilien ein ganz anderes Bild: Statt wie bisher einem urzeitlichen Affen, ordneten die Wissenschaftler diese Zähne und Kieferknochen nun einem Vormenschen, einem Homininen, zu. Das Sensationelle daran: Graecopithecus freybergi lebte bereits vor gut sieben Millionen Jahren – und könnte damit einer der ältesten Vormenschen überhaupt sein. Und: Dieser Hominine lebte in Europa, und das zu einer Zeit, als es nach gängiger Lehrmeinung außerhalb Afrikas noch keine menschenähnlichen Wesen gegeben haben kann. Sollte sich die menschenähnliche Natur des Graecopithecus bestätigen, könnte die Wiege der Menschheit damit – zumindest zum Teil – auch in Europa gestanden haben.
Jetzt könnte ein weiterer Fund diese Hypothese untermauern. In Trachilos an der Westküste von Kreta haben Forscher unter Leitung von Per Erika Ahlberg von der Universität Uppsala mögliche Fußabdrücke eines frühen Homininen entdeckt. Die Abdrücke liegen in einer Schicht Sedimentgestein, die bereits 5,7 Millionen Jahre alt ist, wie Datierungen von winzigen Meeresorganismen in dieser Schicht belegen. In diesem einstigen Sandstrand stießen die Wissenschaftler auf mehr als 50 dicht an dicht liegende Fußabdrücke. Inmitten dieses Spurenwirrwarrs waren zwei Fährten besonders gut erkennbar. “Beide sind eher schmal und müssen von einem zweibeinig laufenden Wesen hinterlassen worden sein, denn es fehlen Abdrücke von Vordergliedmaßen”, berichten die Forscher. In den einzelnen Fußspuren sind fünf nach vorne gerichtete Zehenabdrücke mit einer besonders großen ersten Zehe zu erkennen. Die Sohle ist eher länglich und herzförmig und endet in einer schmalen, tiefer eingesenkten Fersenregion.
Fußabdrücke eines Homininen
Wer aber hinterließ vor 5,7 Millionen Jahren diese Spuren? Nach Ansicht der Forscher muss der Urheber auf zwei Beinen gelaufen sein – damit scheiden viele Raubtiere und Affenarten aus. Auch der damals im Mittelmeerraum verbreitete Primat Oreopithecus bambolii passt nicht ins Bild, weil er zwar streckenweise aufrecht lief, aber eine noch deutlich abgespreizte Großzehe besaß, wie Fossilfunde belegen. Auch ein Bär könnte kurze Zeit auf den Hinterbeinen gegangen sein, doch das Fehlen von Klauenabdrücken und der auffallend große Großzeh sprechen dagegen, so Ahlberg und seine Kollegen. Ihrer Meinung nach ist es wahrscheinlicher, dass ein bisher unbekannter früher Hominine diese Abdrücke hinterließ. “Die Fußspuren von Trachilos haben größere anatomische Gemeinsamkeiten mit den Homininen als mit allen anderen Primanten, die wir zum Vergleich herangezogen haben”, berichten die Forscher. Das aber bedeutet: Es könnte schon vor 5,7 Millionen Jahre frühe Vormenschen im europäischen Mittelmeerraum gegeben haben.
“Wenn der Urheber der Trachilos-Fußspuren tatsächlich ein früher Hominine war, dann hätte dies beträchtliche Konsequenzen für unsere Vorstellungen der frühen Biogeografie der Menschenvorfahren”, konstatieren Ahlberg und seine Kollegen. Denn die Wiege der Menschheit könnte im Norden bis in den Mittelmeerraum gereicht haben. Gestützt wird diese Vermutung durch das damalige Klima: Damals war die Sahara noch keine Wüste und eine ausgedehnte Savanne erstreckte sich über ganz Nordafrika und bis in das östliche Mittelmeergebiet. Weil damals die Meerenge von Gibraltar verschlossen war, sank der Meeresspiegel im Mittelmeer zudem immer weiter ab. Inseln wie Kreta waren dadurch noch mit dem Festland verbunden. “Der Urheber der Fußspuren könnte damals auf einer nach Südosten aus dem griechischen Festland herausragenden Halbinsel gelebt haben”, erklären die Wissenschaftler. Möglicherweise war dieser bisher noch unbekannte Hominine zu jener Zeit sogar im gesamten östlichen Mittelmeerraum und in der Levante verbreitet – künftige Fossilfunde könnten dies klären. “In jedem Falle ist unsere Entdeckung eine Herausforderung für die etablierte Lehrmeinung der frühen menschlichen Evolution – und sie wird sicher eine Menge Diskussionen auslösen”, sagt Ahlberg. “Ob die wissenschaftliche Gemeinschaft Fußspuren als schlüssigen Beleg für die Präsenz von Homininen auf Kreta akzeptieren wird, bleibt abzuwarten.”