Im heutigen Nord- und Mitteleuropa können die meisten Menschen auch als Erwachsene noch den Milchzucker Laktose verdauen. Bei Individuen, die ungefähr im Jahr 1200 vor Christus bei der Schlacht an dem Fluss Tollense im heutigen Mecklenburg-Vorpommern gestorben sind, war das jedoch nicht der Fall. Das konnten Forscher nun zeigen, indem sie das Erbgut aus den Knochen der Gefallenen untersuchten. Demnach hat sich die Genvariante, die für die Laktosetoleranz verantwortlich ist, innerhalb weniger Jahrtausende in Europa verbreitet.
Für den Nachwuchs von Säugetieren ist Milch die erste Nahrungsquelle. Nach dem Säuglingsalter verlieren jedoch fast alle Säugetiere – auch die meisten Menschen – die Fähigkeit, den in der Milch enthaltenen Zucker Laktose zu verdauen. Doch als die Menschen in der Jungsteinzeit vor rund 7500 Jahren begannen, Vieh zu halten und zu nutzen, wurde es für sie zum Vorteil, auch als Erwachsene noch Milch trinken zu können. Dafür benötigen sie das Enzym Laktase, das den Milchzucker spaltet. Damit der Körper dieses Enzym noch im Erwachsenenalter produziert, ist eine bestimmte Genvariante erforderlich. Ein internationales Forschungsteam um den Populationsgenetiker Joachim Burger von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat nun untersucht, wie verbreitet diese Variante in der Bronzezeit vor etwa 3200 Jahren war.
Archäologische Funde vom ältesten Schlachtfeld Europas
Dazu nutzten die Forscher archäologisches Material vom ältesten bekannten Schlachtfeld Europas: Am Fluss Tollense im heutigen Mecklenburg-Vorpommern trafen um 1200 vor Christus tausende Krieger aufeinander. Ihre Knochen liefern heutigen Archäologen wertvolle Informationen. Burger und seine Kollegen untersuchten das Erbgut von 14 gefallenen Personen, zwei davon weiblich. In weiten Teilen ähnelte das Genom der untersuchten Individuen dem der Menschen, die heute in Norddeutschland leben. Eine Ausnahme bildete genau die Genvariante, die für die Laktase-Produktion zuständig ist. Nur einer der 14 untersuchten Menschen aus der Bronzezeit trug das dafür nötige Gen. Alle anderen waren offenbar laktoseintolerant. „Von der heutigen Bevölkerung desselben Gebiets verfügen 90 Prozent über dieses Merkmal, die sogenannte Laktasepersistenz“, sagt Burger. „Dieser Unterschied ist enorm, wenn man bedenkt, dass nicht viel mehr als 120 Menschengenerationen dazwischenliegen.“
Wie konnte sich die Genvariante in so kurzer Zeit so weit verbreiten? Denkbar wäre theoretisch, dass Völkerwanderungen dazu geführt haben, dass heute mehr Menschen mit Laktasepersistenz in Mecklenburg-Vorpommern leben als in der Bronzezeit. Da jedoch das übrige Erbgut weitgehend übereinstimmt, ist diese Möglichkeit nach Angaben der Forscher unwahrscheinlich. Die plausibelste Erklärung ist somit eine starke natürliche Selektion. Co-Autor Daniel Wegmann von der Université de Fribourg in der Schweizerklärt: „Wir schließen daraus, dass laktasepersistente Individuen im Verlauf der letzten 3.000 Jahre mehr Kinder bekommen haben, beziehungsweise dass diese Kinder bessere Überlebenschancen hatten als jene ohne dieses Merkmal.“ Berechnungen der Forscher zufolge bedeutete die erforderliche Genvariante einen Selektionsvorteil von sechs Prozent. Das heißt, auf 100 laktoseintolerante Nachkommen kamen 106 Nachkommen, die auch als Erwachsene noch Milch verdauen konnten. „Damit ist das entsprechende Gen das am stärksten positiv selektierte im ganzen menschlichen Genom“, sagt Joachim Burger.
Milch als überlebenswichtiger Vorteil
Welche evolutionären Vorteile hatte es, auch nach dem Säuglingsalter Milch trinken zu können? Diese Frage ist noch nicht vollständig geklärt. Wahrscheinlich haben dabei verschiedene Faktoren zusammengespielt: Milch liefert viele Kalorien und Nährstoffe, und ist außerdem im Vergleich zum damals verfügbaren Trinkwasser relativ wenig mit Krankheitserregern kontaminiert. Zusätzlich konnten Menschen in nördlichen Breiten mit geringer Sonneneinstrahlung besonders davon profitieren, höhere Mengen Vitamin D und Calcium mit der Nahrung aufzunehmen.
„Es ist erstaunlich, dass zur Zeit des Konflikts an der Tollense, mehr als 4.000 Jahre nach der Einführung der Landwirtschaft in Europa, die Milchverträglichkeit bei Erwachsenen immer noch so selten war“, sagt Burger. Mitautor Krishna Veeramah von der Stony Brook University in New York ergänzt: “Weniger als 2.000 Jahre später, im frühen Mittelalter, konnten bereits über 60 Prozent der Menschen in Europa als Erwachsene Milch trinken. Das ist eine unglaublich schnelle Veränderung.“ Eine Erklärung dafür könnte sein, dass sich die Fähigkeit, Milch zu verdauen, erst mit zunehmender Bevölkerungsdichte zu einem besonders starken Selektionsfaktor entwickelt hat. In Zeiten von Nahrungsmangel oder verseuchtem Trinkwasser könnte Milch als energiereiche, unkontaminierte Flüssigkeit höhere Überlebenschancen geboten haben, so Burger: „Gerade in der frühen Kindheit, also in den Jahren nach dem Abstillen, mag das in prähistorischen Populationen immer wieder entscheidend gewesen sein.“
Quelle: Joachim Burger (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) et al., Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2020.08.033