„Pass auf, der Boden ist glatt hier. Verschütte nichts von den Farben”, weist Mendakwe seinen jungen Gehilfen an. Der stolpert, einen Korb über der Schulter, mit angstgeweiteten Augen hinter dem Schamanen her. Die Wände der Höhle reflektieren den irrlichternden Fackelschein und scheinen sich auch jetzt noch, einen vollen Tag nach der Großen Reise Mendakwes, mit zottigen Häuptern und geschwungenen Hörnern zu beleben.
Vor einer Nische, die wie ein offener Schlund aus der Wand gähnt, hebt Mendakwe abrupt die Hand. „Hier war es”, murmelt er. Hier hat er ihn gesehen. Selbst wenn er nicht so sicher wäre, würden ihm die Reste des Erbrochenen Hinweis genug gewesen sein. Hier, am Fuß der Nische, ist er irgendwann nach der Reise mit dröhnendem Schädel wach geworden und hat den Pilzsud, der zum Reisen verhilft, wieder von sich gegeben.
Der Schamane klemmt seine Fackel in eine Felsspalte gegenüber und befiehlt dem Jungen, die Lederbeutel mit den Farben aus dem Weidenkorb zu holen. Während der Junge, leichenblass unter der stammesüblichen roten Bemalung, auf dem Boden kauert und sich nach draußen ins Sonnenlicht wünscht, wirft Mendakwe mit halb geschlossenen Augen die erste Kontur aus rotem Ocker an die Nischenwand. Strich für Strich ersteht der Wisent-Geist zu neuem Leben, den er gestern während der Reise an dieser Stelle aus der Wand schweben sah. Und der ihm die Worte der Weisheit zugeraunt hat.
Es fabuliert sich fast wie von selbst – bei einem so imaginativen Szenario. Wer in den Kindertagen „Urmenschen-Bücher” verschlungen hat, wird kein Problem haben, auch als Erwachsener solche Szenen über den Ursprung der Höhlenmalerei tagträumend auf die innere Leinwand zu projizieren. Bislang genoss er dabei sogar den Segen der Wissenschaft.
Die Anthropologen sprechen von der „Trance-Hypothese”. Ihre prominentesten Vertreter sind Dr. Jean Clottes, Archäologe im Dienst des französischen Kultusministeriums und leitender Betreuer der mit steinzeitlichen Bildern geschmückten Chauvet-Grotte in Südfrankreich, sowie David Lewis-Williams, emeritierter Archäologie-Professor an der University of the Witwatersrand in Südafrika. Warum unsere altsteinzeitlichen Vorfahren Bilder auf Höhlenwände malten, begründen Clottes und Lewis-Williams wie folgt:
· Die Höhlen waren schamanistische Heiligtümer.
· Steinzeitliche Schamanen versetzten sich in der Abgeschiedenheit der Höhlen in Trance und malten währenddessen oder danach an die Wände, was sie gesehen hatten. Der altsteinzeitlichen Um- und Gedankenwelt entsprechend waren dies überwiegend Tiere beziehungsweise Tiergeister. Die Höhlenwände galten als dünne „Membranen” zwischen dem Diesseits und der Tiergeisterwelt.
· Ein deutlicher Hinweis auf Trance-Zustände, so Clottes und Lewis-Williams weiter, ist die stets „schwebende” Manier der Darstellungen: Die Tiere haben nie erkennbaren Boden unter den Füßen und sind nicht in Landschaften eingebunden.
· Bislang ungedeutete Gitter-, Punkt- und Zickzackmuster an den Höhlenwänden passen gut ins Bild, sagen die beiden Forscher: Diese Muster sollen typische Sinneseindrücke in den drei Phasen der Trance abbilden.
Es entspräche nämlich den Erkenntnissen der Neuropsychologie, dass die Trance stets drei Stufen durchlaufe: Zuerst eine Phase mit geometrischen Mustern wie Gittern und Punkten, danach eine Phase mit schlangen- oder röhrenartig gekrümmten Strukturen. In der dritten und tiefsten Trance-Phase durchlaufe der Halluzinierende einen Tunnel, an dessen Ende es hell wird. Nach dem Hindurchtreten träfe er bizarre Gestalten und bilde sich ein, fliegen zu können und sich selbst in andere Wesen zu verwandeln. Diese drei Phasen, teilen Clottes und Lewis- Williams mit, seien allen Menschen gemein und letztlich eine Eigenschaft unseres Nervensystems – die auch bei den Steinzeitlern vor 30 000 Jahren vorausgesetzt werden dürfe, weil sie als anatomisch moderne Menschen uns physisch vollkommen geglichen hätten.
Was für eine spannend zu lesende, die Fantasie beflügelnde und eingängige Hypothese – so einleuchtend in ihrer Argumentation. Und so falsch, murren die wissenschaftlichen Kontrahenten.
„Das angebliche Drei-Stufen-Modell der Trance entbehrt jeder Realität”, ärgert sich der britische Archäologe Dr. Paul Bahn über eine der zentralen Thesen von Clottes und Lewis-Williams. Er war dabei, als Clottes am 28. Februar 1996 seine und Lewis-Williams’ Hypothese im Pariser Centre Alfred Binet der Öffentlichkeit vorstellte. Schon damals, bezeugt Bahn, habe ein Psychoanalytiker im Publikum erklärt, dass in seinen 20 Berufsjahren unter rund 2000 Patienten mit Halluzinationen kein einziger war, bei dem etwas wie diese drei Trance-Stufen aufgetreten sei. Trotz allen Kopfschüttelns der Psychologen haben Clottes und Lewis-Williams an ihrer Behauptung festgehalten.
Der Südafrikaner Lewis-Williams bezieht einen Großteil seiner Aussagen zum Thema Trance-Erlebnisse und -Phasen aus Gesprächen mit Schamanen der San („Buschmänner”) in Südwestafrika. „Ich finde es sehr problematisch”, sagt Randall White, Professor für Anthropologie an der New York University, „heutige Menschen wie die San in Südafrika mit Menschen vor 30 000 Jahren im europäischen Aurignacien zu vergleichen.”
Der New Yorker Aurignacien-Spezialist ist auch aus anderen Gründen „sehr skeptisch” gegenüber der Trance-Hypothese. Er hat sich genau angesehen, mit welchen Felsbild-Beispielen Clottes und Lewis-Williams ihre Hypothese in ihrem Bildband „Schamanen – Trance und Magie in der Höhlenkunst der Steinzeit” untermauern. Randall White stellt fest: „Das ist eine sorgfältige Auslese von 40 Bildern – unter Ausschluss von mehreren Tausend, die nicht ins Modell passen.”
Es gebe eine jahrzehntelange unselige Tradition, die Existenz der Feldbilder mit nur einem einzigen Erklärungsmodell deuten zu wollen. Dies sagt Dr. Christian Züchner vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Erlangen, der renommierteste deutsche Experte für prähistorische Felsbildkunst. Er ist strikt dagegen, die Bilder über ein und denselben Leisten zu schlagen – und das auch noch nach sich ändernden zeittypischen Deutungs-Moden:
· In der Zeit zwischen etwa 1900 und 1965 dominierte die Jagdzauber-Hypothese. Ihr zufolge hätten unsere Vorfahren Tiere an die Höhlenwand gemalt, weil sie die Fortpflanzung der Beute und den eigenen Jagderfolg durch magische Riten herbeihexen wollten. Inzwischen liegen archäologische Daten vor: Maximal 40 Prozent der dargestellten Tiere standen – angesichts der an Siedlungsplätzen gefundenen Knochen – tatsächlich auf dem Speiseplan der Altsteinzeitler.
· In den sechziger bis neunziger Jahren, sagt Züchner, seien die Ideen des französische Ethnologen und Prähistorikers André Leroi-Gourhan favorisiert worden. Der habe jedes Felsbild in das Deutungsschema „männliches Prinzip – weibliches Prinzip” gepresst: ein psychologisches Motiv, das die sich anbahnende sexuelle Revolution in den westlichen Industrieländern widerspiegelte.
· Jetzt ist die Theorie des „Schamanismus” en vogue. Schamanen und Schamaninnen sind heutzutage in Esoterik-Kreisen schick. Auch die Drogenwelle hat viel mit der Akzeptanz der Trance-Hypothese zu tun.
Züchners Kritik an ihr beginnt ebenfalls beim angeblichen „ Drei-Stufen-Modell”. Er zitiert eine Untersuchung, wonach Gitter und ähnliche geometrische Muster ausschließlich zwischen dem mittleren Solutréen und dem mittleren Magdalénien anzutreffen sind. Das heißt: nur zwischen ungefähr 21 000 und 16 000 Jahren vor heute. „Der Drei-Schritt, den Clottes und Lewis-Williams beschreiben, war nie durchgängig da”, bekräftigt der Erlanger Forscher.
Überhaupt seien „Trance” und „Schamane” zu Unrecht zu einem Begriffspaar geworden, das stets im gleichen Atemzug genannt wird. „Schamanen, wie sie noch heute beispielsweise in Sibirien zu beobachten sind, verfügen über ein breites Repertoire”, erklärt Züchner. „Das sind Heiler und Ratgeber, die Séancen und Trance ohne Zweifel nutzen – aber nicht im Sinne einer generellen Gleichsetzung.”
„Außerdem”, betont der Erlanger, „war und ist es technisch schwierig, Felsbilder zu erschaffen. Das fängt beim Zubereiten der Farbpigmente an und geht bis zum Gerüstbau, etwa in der Höhle von Lascaux, wo manche Bilder sich an der Decke befinden.” Und dann die ästhetische Qualität des Dargestellten, die noch heute jeden in ihren Bann zieht: „Das waren Kunst-Profis – so etwas kann nicht jeder x-beliebige Heilkundige.”
Es sei unsinnig, Halluzinationen von Schamanen mit Felsbildern in Verbindung zu bringen, sagt Züchner. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert berichten reisende Ethnologen aus entlegenen Winkeln der Erde über schamanistische Gebräuche. „Nur als Ausnahme ist dabei beobachtet worden, dass ein Schamane in oder nach einer Trance ein Felsbild gemalt hat.”
Gegen die Trance-Hypothese spricht außerdem die Einheit der Stile quer durch Europa, argumentiert Züchner. „In einem bestimmten Zeithorizont trifft man zwischen Nordspanien und der Ukraine überall auf die gleiche künstlerische Manier.” Zum Beispiel:
· Typisch für das Gravettien, 27 000 bis 23 000 Jahre vor heute: rote Tiersilhouetten und die auffälligen Hand-Negative. Dabei legte man die Hand an die Felswand und blies oder spie rotes Farbpulver darauf. In späteren Epochen fehlt das Motiv völlig.
· Typisch für das Solutréen, 23 000 bis 17 000 Jahre vor heute: dreidimensional dargestellte Tiere in Bewegung. Gegen Ende des Solutréen kommt rot aus der Mode, man bevorzugt von da an schwarz.
· Typisch für das Magdalénien, 17 000 bis 10 000 Jahre vor heute: dreidimensional dargestellte, in Schwarz ausgeführte ruhende Tiere, häufig mit hintereinander gekreuzten oder einander überdeckenden Beinen.
„Ich glaube nicht an den übergroßen Zufall, dass unabhängig voneinander ein malender Schamane in Asturien beim Halluzinieren dasselbe Wisent gesehen und es in genau derselben Körperhaltung und derselben Farbe auf eine Wand gemalt hat, wie zur gleichen Zeit seine Kollegen in der Dordogne und in Burgund”, sagt Züchner. Vielmehr habe es offenbar paneuropäische, verbindliche Normen gegeben, „wie etwas zu sein hat”.
Die Clans und Stämme dürften damals europaweit mehr voneinander gewusst haben, als viele heute für möglich halten. Immerhin, so Züchner, hätten auch Inuit-Gruppen in Grönland und Nordkanada noch in historischer Zeit zu bestimmten Anlässen Tausende von Kilometer weite Wanderungen für Zusammenkünfte unternommen. Nomaden sind beweglich.
So wurden die dargestellten Tiere, trotz der offensichtlichen künstlerischen Potenz der Maler, fast nie fotorealistisch abgebildet, sondern so, wie es in der jeweiligen Epoche üblich war. Es gab damals wie heute Normen, über die man sich nicht ohne weiteres hinwegsetzte, erläutert der Erlanger Experte: „Man wächst in einer bestimmten Kultur auf und wird darin unterwiesen.” So beantwortet der Erlanger auch die Frage, warum auf den Höhlenbildern europaweit nur sehr selten Menschen dargestellt wurden: Das machte man nun mal nicht.
Und welche Hypothese hat Christian Züchner persönlich – was könnten sich unsere Vorfahren gedacht haben, wenn sie Nashörner, Höhlenbären und Pferde auf Felswände bannten? „Da nur ein Bruchteil der damals lebenden Tiere abgebildet wurde, waren die Ausgewählten offenbar Träger von Bedeutungen – die wir heute nicht kennen.” Mehr an Spekulation lässt sich der Felsbild-Spezialist nicht entlocken. Doch eine Botschaft ist ihm wichtig: „Was die Bilder symbolisieren, kann uns allenfalls die Kleinkunst erschließen.”
„Kleinkunst” nennen die Archäologen das zu Tausenden zählende Heer aus teils nur wenige Zentimeter großen Ritz- und Schnitzwerken aus Tierknochen und Elfenbein, die an steinzeitlichen Siedlungsplätzen und in Höhlen ans Licht kamen. Die löwenköpfigen Figuren aus der Geißenklösterle- und der Hohlefelshöhle auf der Schwäbischen Alb sind nur die weltberühmt gewordene Spitze eines fantastischen Eisbergs – dessen Existenz der breiten Öffentlichkeit nahezu unbekannt ist.
Zu Unrecht, sagt Christian Züchner und präsentiert eine Reihe von Umzeichnungen der Ritzlinien auf einigen Kleinkunst-Objekten:
Da ist ein Knochenstück, das sich in der Höhle „Château des Eyzies” in der Dordogne fand: Auf ihm tritt eine Kolonne von neun Menschen mit geschulterten Speeren aus einer Baumgruppe und nähert sich einem überlebensgroßen Wisent.
Oder ein Kleinkunst-Fund aus der La-Vache-Höhle in den Pyrenäen: Mit gesenkten Köpfen steht eine Gruppe von sechs Menschen hinter einem riesigen Pferd – unter dessen Schweif in ungewöhnlicher Frontalansicht ein Bär zu sehen ist.
Oder das Knochenstück aus der La-Madeleine-Höhle in der Dordogne: Auf ihm begegnen ein Mann und eine am Schwanz gefiederte Schlange zwei Pferdeköpfen.
„Dahinter stecken vielleicht ganze Geschichten, religiöse Ideen oder Schöpfungsmythen”, vermutet Christian Züchner. „Es war ein großer Fehler der Vergangenheit, sich fast nur um die prächtige, spektakuläre Höhlenmalerei zu kümmern. Beides, Felsbilder und Kleinkunst, gehört zusammen.”
Das Fazit des Erlanger Experten: „Wenn wir auch nur eine kleine Chance haben wollen, einen Blick in die Geisteswelt des prähistorischen Menschen zu tun, dann ist die systematische Untersuchung der Kleinkunst der einzige Weg dorthin. Mit dem bloßen Deuten-Wollen der großen Felsbilder werden wir auch weiterhin scheitern.” ■
Thorwald Ewe
Ohne Titel
• Die Archäologen Jean Clottes und David Lewis-Williams meinen, die Höhlenmalereien der Altsteinzeit seien von Schamanen geschaffen worden, die ihre Halluzinationen verarbeiteten.
• Namhafte Experten lehnen dies ab: zu verallgemeinernd, zu konstruiert.
• So genannte Kleinkunst könnte der Zugang zur Höhlenbild-Deutung sein.
Ohne Titel
Das FlüSSchen Ardèche hat eine tiefe Schlucht ins südfranzösische Cévennen-Bergland geschnitten. Kajak-Freaks schätzen das Naturerlebnis, auf dem smaragdgrünen Wildwasser entlangzupaddeln und die Stille zu genießen. Doch damit soll ab 2005 Schluss sein, wenn es nach den Marketing-Strategen der Region geht.
Ein originalgetreuer Nachbau der 1995 entdeckten und jetzt schon weltberühmten Chauvet-Grotte am Ardèche-Steilufer, nahe der Ortschaft Vallon-Pont-d’Arc, soll dann mit mehr als 400 Tierdarstellungen eine halbe Million Besucher pro Jahr anziehen. Das soll nicht nur Euro-Millionen in die Kassen spülen – das ganze Département Ardèche, das bislang von den Touristen-Heerscharen auf der Rhônetal-Autobahn ignoriert wird, kann sich dann als lohnendes Reiseziel profilieren. Dies hofft jedenfalls Emmanuel Avon von der lokalen Tourismusbehörde. Dazu bedarf es freilich einer attraktiven Werbebotschaft. Denn fantastische steinzeitliche Malereien bieten auch die Höhlen von Lascaux, Cosquet, Altamira und anderswo. Aber solch eine überzeugende „Verkaufe” gibt die Chauvet-Grotte durchaus her. Denn der betreuende Archäologe Dr. Jean Clottes hat Kohleproben aus den Wandzeichnungen zweier Nashörner und eines Bisons nach der Kohlenstoff-14-Methode datieren lassen – mit dem Ergebnis: sensationelle 30 340 bis 32 410 Jahre alt.
Damit stammen die atemberaubenden Kunstwerke anscheinend aus dem Aurignacien, der frühesten Besiedlungsepoche Europas durch den anatomisch modernen Menschen – und sind somit die ältesten bildlichen Darstellungen der Welt. Wenn dieser Superlativ keine Touristenscharen lockt – was dann?
Allerdings nur, wenn die Datierung stimmt. Aber genau das stellen einige Archäologen infrage. „Anfänglich habe ich die frühe Datierung akzeptiert”, räumt der britische Archäologe und Buchautor Dr. Paul Bahn ein, „obwohl ich immer skeptisch war. Inzwischen bin ich jedoch immer überzeugter von den Argumenten des deutschen Experten Christian Züchner.”
Und der sagt: Stil, Inhalt und Maltechnik der meisten Darstellungen weisen klar in eine jüngere Epoche. „Jede Zeit hat ihre typischen Stilmerkmale”, erklärt der Erlanger Felsbildspezialist. „Die roten Hand-Negative in der Chauvet-Grotte sind die ältesten Bilder. Sie stammen aus dem Gravettien – diese Epoche begann in der Grotte vor zirka 27 000 Jahren. Die schwarzen, dreidimensionalen Tierdarstellungen sind die jüngsten und gehören in das mittlere Magdalénien – sie entstanden vor etwa 15 000 Jahren.” Die Art und Weise, wie die einen Bilder die anderen ganz oder teilweise überdecken, entspreche der Stilfolge in den zahlreichen anderen Höhlen des Ardèche-Tals.
Auch Jean Clottes, der Chefwissenschaftler der Chauvet- Grotte, habe dies anfänglich genauso gesehen, bezeugt Züchner: „ Als Clottes 1995 die Grotte zum ersten Mal betrat, war sein spontaner Kommentar zum Alter der Bilder: ,Im Mittel um 20 000 Jahre.‘ Das ist auch meine Meinung. Erst als die Datierungsresultate kamen, ist er umgeschwenkt und behauptet seitdem, die Malereien stammten aus dem Aurignacien und seien die ältesten der Menschheitsgeschichte.” Der Erlanger Wissenschaftler lehnt es ab, der datierenden Wissenschaftlerin – Dr. Hélène Valladas vom Laboratoire des Sciences du Climat et de l’E nvironnement in Gif-sur-Yvette bei Paris – fehlerhaftes Arbeiten zu unterstellen: „Ich bezweifle nicht, was sie gemessen hat. Aber man sieht ja am Beispiel Candamo, was alles möglich ist.”
Auch aus der mit steinzeitlichen Bildern geschmückten Candamo-Höhle bei Oviedo in Nordspanien hatte Hélène Valladas Rußproben zum Datieren erhalten. Das Resultat ihres Labors: mehr als 31 000 Jahre alt. „Auch da hat dieses frühe Datum von den Malstilen her nicht gepasst”, sagt Züchner. Spanische Archäologen schickten weitere Proben aus Candamo an die Geochron Laboratories in Cambridge, Massachusetts. Ergebnis: ein Alter von zirka 15 000 Jahren, sehr in Einklang mit der stilistischen Analyse.
Weder in Cambridge noch in Gif-sur-Yvette muss gepfuscht worden sein, um solche Diskrepanzen entstehen zu lassen. Züchner selbst bietet Erklärungsmodelle an: So könnten die prähistorischen Künstler des Gravettien und Magdalénien die zum Malen verwendete Holzkohle aus viele Jahrtausende älteren Ästen hergestellt haben, wie sie auch heute noch in eiszeitlichen Flussterrassen und Gletschermoränen zu finden sind. Im Fall der Candamo-Höhle kam in einer zusätzlichen chemischen Analyse ans Licht, dass der Mal-Ruß Knochenkohle enthielt – erzeugt durch Verkohlen eines Knochens, den der Künstler vielleicht in der Höhle gefunden hatte. Der Knochen kann bereits viele Tausend Jahre dort gelegen haben.
„Ich will auch überhaupt nicht ausschließen”, sagt der Erlanger Wissenschaftler, „dass tatsächlich Menschen des Aurignacien schon vor 30 000 Jahren in den Höhlen waren. Sie könnten dort abgebrannte Fackeln oder Feuerstellen hinterlassen haben, aus deren Holzkohle sich andere 15 000 Jahre später zum Malen bedient h aben.”
Am stilistisch augenscheinlichen Alter und an der künstlerischen Bedeutung gemessen, wäre die Chauvet-Grotte „als ein zweites Lascaux” anzusehen, urteilt Christian Züchner. Auch keine schlechte PR-Botschaft, um Touristen zu ködern – aber nicht so stark wie „das älteste Höhlenheiligtum der Welt”, wie die Fundstätte an der Ardèche jetzt von Jean Clottes hartnäckig bejubelt wird.
„Es ist natürlich ein bisschen schwer, so was zurückzunehmen, wenn es mal um die Welt gegangen ist”, kommentiert Christian Züchner augenzwinkernd.