Ein internationales Forscherteam hat im Nordosten Äthiopiens das Skelett eines Kindes entdeckt, das wie die berühmte “Lucy” zur Vormenschenart Australopithecus afarensis gehörte. Die Knochen des zum Todeszeitpunkt schätzungsweise drei Jahre alten Mädchens sind etwa 3,3 Millionen Jahre alt und damit die ältesten bekannten Kinderknochen überhaupt. Mit Schädel, Torso und großen Teilen der Gliedmaßen ist das Skelett nicht nur fast vollständig, sondern enthält sogar Knochen wie das Zungenbein, deren Aussehen bei den Frühmenschen bislang unbekannt war. Der außergewöhnliche Fund hilft nicht nur, Australopithecus afarensis besser zu charakterisieren, er wirft auch ein neues Licht auf die frühe Entwicklung des Menschen.
Die Schätzung der Forscher, das Kind sei bei seinem Tod etwa drei Jahre alt gewesen, basiert hauptsächlich auf dem Zustand des Gebisses. Die Milchzähne, von denen alle bis auf zwei erhalten sind, waren bereits vorhanden, und auch ein Teil der bleibenden Zähne ist schon innerhalb des Schädels angelegt. Auch das Gehirnvolumen des Mädchens können die Forscher gut abschätzen: Es entspricht mit 275 bis 330 Kubikzentimetern etwa dem eines dreijährigen Schimpansen. Allerdings scheint sich das Gehirn bei
A. afarensis sehr viel langsamer entwickelt zu haben als bei den Menschenaffen, schreiben die Forscher. Während das Gehirn des Kindes nur zwischen 63 und 88 Prozent der Größe eines Erwachsenen aufweist, besitzt ein gleichaltriger Schimpanse bereits über 90 Prozent.
Wie bereits bei früheren A. afarensis-Funden ähneln Schien- und Fersenbeine des Kindes denen des modernen Menschen ? nach Ansicht der Forscher ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Frühmenschen bereits aufrecht gingen. Nicht so ganz dazu passen wollen jedoch Schulterpartie und Finger: Die Schultern ähneln denen eines Gorillas, und der einzige erhaltene Finger ist deutlich gekrümmt, wie es auch bei Schimpansen zu beobachten ist. Das deute daraufhin, dass A. afarensis trotz seiner Fähigkeit zum aufrechten Gehen durchaus auch noch auf Bäume kletterte und dort möglicherweise Schutz vor Feinden suchte.
Die Ausgrabung des Skeletts, das auf dem Grund des Mündungsbereiches eines ehemaligen Flusslaufs in der Region Dikika gefunden wurde, dauerte gut vier Jahre. Der extrem gute Zustand der Knochen lasse es wahrscheinlich erscheinen, dass das Kind bereits kurz nach seinem Tod, wahrscheinlich während einer Flut, unter Sand begraben wurde, so die Forscher. Dieser Sand verfestigte sich dabei im Lauf der Zeit und wurde zu massivem Sandstein, den die Wissenschaftler mühsam von den Knochen entfernen mussten ? eine Arbeit, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Von der vollständigen Freilegung der Knochen erhoffen sich die Anthropologen weitere Informationen über Leben und Entwicklung von A. afarensis.
Zeresenay Alemseged (Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig) et al.: Nature, Bd. 443, S. 296 ddp/wissenschaft.de ? Ilka Lehnen-Beyel