Müller-Römer: Bei meinem ersten Besuch der Cheopspyramide im Jahr 1996 hatte ich ein Erlebnis der besonderen Art: Ich stand als Ingenieur, vollkommen überwältigt von der Größe des Bauwerks, mehrere Minuten regungslos am Fuße der Pyramide. Ich fragte mich, wie die Menschen der damaligen Welt dieses Bauwunder wohl vollbracht hatten ohne Turmdrehkran, ohne Hubschrauber und ohne moderne Bautechnik. Noch am selben Tag kaufte ich mir das Buch Building in Egypt von Dieter Arnold. Das war der Beginn meiner Liebe zur Ägyptologie.
Sie hatten vorher keinerlei Affinität zum Alten Ägypten?
Nein. Das optische Schlüsselerlebnis in Ägypten hat mein Leben nach der Berufstätigkeit stark beeinflusst. Während des Zweitstudiums war ich dann sehr interessiert am Bauwesen, der Architektur aber auch der Kultur des alten Ägypten. Ich fing an, alles an Material zu sammeln, was mir zum Bau der Pyramiden unterkam.
Wie empfanden Sie das Studium mit den viel jüngeren Kommilitonen?
Ich habe zwei große Unterschiede zu den jüngeren Studenten festgestellt: Zum einen fiel mir das reine Lernen zum Beispiel von Vokabeln ägyptologischer Fachsprachen viel schwerer. Auf der anderen Seite weiß ich dank meiner Lebens- und Berufserfahrung, wie man eine Thematik angeht und darstellt, wie man eine Arbeit schreibt und präsentiert. Das hat wiederum sehr geholfen. So haben sich die Vor- und Nachteile ausgeglichen.
Wie wurden Sie denn von den jungen Wilden betrachtet?
Ich habe ja niemandem den Arbeitsplatz weggenommen. Eine Konkurrenz habe ich daher nie erlebt. Außerdem haben Senioren in München grundsätzlich immer die Möglichkeit, alle Veranstaltungen am Institut für Ägyptologie zu besuchen. Von daher war ich nie allein unter den Jungen. Ich war aber tatsächlich der einzige Senior in den letzten zehn Jahren, der das Studium auch abgeschlossen hat.
Warum tut sich die Fachwelt so schwer damit, die Fragen nach der Bautechnik der alten Pyramiden zu klären?
Es gibt zwei Gruppen von Wissenschaftlern, die sich mit der Pyramidenbauweise beschäftigen. Da sind zum einen die klassischen Archäologen und Ägyptologen. Die haben kaum ein technisches Gespür für die Machbarkeit von Bauvorhaben und sind es auch nicht gewohnt, technische Probleme systematisch anzugehen. Sie haben tolle Ideen und machen schöne Zeichnungen, aber präsentieren keine praktischen Vorschläge und Berechnungen, wie ein Bauwerk errichtet und fertig gestellt werden kann. Trotzdem werden diese Ideen aufgrund der renommierten Namen der Verfasser immer wieder zitiert.
Die andere Gruppe würde ich als Hobby-Ägyptologen bezeichnen. Unter ihnen finden sich viele Ingenieure, Techniker und interessierte Laien. Sie legen raffinierte Erklärungen zu bautechnischen Fragen vor und stellen auch konkrete Berechnungen an. Häufig lassen sie dabei jedoch die archäologischen Befunde und Zusammenhänge außer Betracht. Hebewerkzeuge wie der Flaschenzug oder der Schaduf (Hebelkonstruktion, d. Red.) zum Beispiel waren im Alten Reich einfach nicht bekannt und sind daher als Basis für Bauvorschläge unzulässig.
Und da bringen Sie perfekte Voraussetzungen mit
Ich habe zumindest als Ingenieur oft auch mit Bautechnik zu tun gehabt, vor allem beim Bayerischen Rundfunk. Da entwickelt man schon ein sehr starkes Gefühl für die technische Umsetzbarkeit von Bauvorhaben. Mein Vorteil war, dass ich dann im Sinne einer grenzüberschreitenden Betrachtung und basierend auf den Befunden der Archäologie, die bisherigen Hypothesen zum Pyramidenbau analysieren konnte. Und dabei habe ich schließlich festgestellt, dass die meisten gängigen Bauvorschläge so nicht funktionieren können.
Welche denn zum Beispiel?
Der Vorschlag des französischen Architekten Jean Pierre Houdin etwa, der von einer Tunnelrampe im Inneren der Cheopsyramide parallel zur Außenwand ausgeht (bild der wissenschaft 5/2008: Cheops hütet sein Geheimnis). Er ignoriert einfach den archäologisch belegten Befund des stufenförmigen Kernmauerwerks. Zum zweiten geht er überhaupt nicht auf die ebenfalls belegte Glättung der Außenfläche von oben nach unten ein, und drittens fehlen seiner Hypothese jegliche Bauzeitberechnungen, mit der er die Machbarkeit seiner Vorschläge beweisen könnte. Darüber hinaus gibt es weitere Unstimmigkeiten bei dieser Hypothese.
Generell finde ich, dass die meisten Vorschläge für den Pyramidenbau viel zu komplex und zu konstruiert für die Zeit von 2800 bis 2400 vor Christus sind. Die alten Ägypter wussten noch nichts von statischen Berechnungen und hoch entwickelter Technik, sondern haben mit einfachen Baumaßnahmen wie dem Schleppen von Gesteinsblöcken über Rampen gearbeitet.
Was schlagen Sie in Ihrer neuen Hypothese vor?
Zuerst einmal habe ich nur Werkzeuge und Techniken berücksichtigt, die auch archäologisch belegt sind. Zentrale Bedeutung haben dabei die Rampe und die Walze in der Verwendung als Seilwinde. Mein neuer Ansatz ist, dass die Pyramide in einzelnen Abschnitten nacheinander gebaut wurde: Zuerst wurde ein stufenförmiges Kernmauerwerk errichtet (siehe Abb.).
Aber den Ansatz des Kernmauerwerks hatten schon andere vor Ihnen.
Das ist richtig. Aber der Ansatz wurde nie zu Ende gedacht. Die meisten Hypothesen gehen außerdem von einer Schichtbauweise aus, entweder mit senkrecht auf die Pyramide zulaufenden oder spiralförmig angeordneten Rampen. Das kann aber so nicht funktionieren, da die Transportkapazität vor dem Hintergrund der belegten Bauzeiten der großen Pyramiden einfach zu gering wäre.
Die stufenförmige Kernbauweise hatte den Vorteil, dass mit Hilfe von vielen kleinen Rampen parallel zum Kernmauerwerk an allen vier Seiten gleichzeitig gearbeitet werden konnte. Bei der Verwendung von Seilwinden können wesentlich kürzere Rampen mit größerer Neigung angenommen werden als beim Einsatz von Zugmannschaften. Damit hat man optimale Möglichkeiten zeitökonomisch zu arbeiten.
Hatten die alten Ägypter denn überhaupt einen solchen Zeitdruck?
Ja, denn die Pyramiden mussten ja noch zu Lebzeiten des jeweiligen Pharaos fertig gestellt werden. Ich habe unter Annahme der vorgeschlagenen Bautechniken die Bauzeiten für verschiedene Pyramiden berechnet. Dabei hat sich gezeigt, dass diese in der Größenordnung mit den historisch belegten Herrscherzeiten der Pharaonen übereinstimmen.
Wie wurde denn Ihrer Hypothese nach das Kernmauerwerk zur Pyramide erweitert?
Nach der Errichtung des Kerns wurde von der untersten Schicht der Außenverkleidung ausgehend eine stufenförmige Umbauung der Pyramide als Arbeitsplattform durchgeführt. Diese Vorgehensweise ist zum einen nötig für das Anlegen des Verkleidungsmauerwerks. Zum anderen ermöglicht eine solche Arbeitsplattform die Konstruktion der Pyramidenspitze und das Aufsetzen des Pyramidions. Im letzten Schritt wird der Rückbau der stufenförmigen Umbauung bei gleichzeitiger Glättung der Außenverkleidung von oben nach unten vorgenommen. Wenn man unten ankommt, ist die Pyramide fertig.
Wie reagiert denn die Fachwelt auf die herausfordernde Hypothese eines Quereinsteigers?
Das muss man jetzt sehen. Ich habe meine Promotion ja erst kürzlich abgeschlossen und bin dabei, die Ergebnisse in verschiedenen Fachmedien zu veröffentlichen.
Ich hoffe, dass dann eine eingehende Diskussion meiner Hypothese stattfindet, weil ich nach zahlreichen Gesprächen mit Ägyptologen wie Baufachleuten der Meinung bin, dass sie die Schwachstellen vieler bisher veröffentlichter Bauvorschläge vermeidet.
Ich hatte natürlich auch schon während meiner Doktorandenzeit Kontakte zu einigen Fachleuten des Pyramidenbaus. Aber die waren relativ schnell wieder freundschaftlich beendet, als ich aufzeigte, dass die Hypothese des entsprechenden Verfassers so nicht zutreffen kann.
Glauben Sie, dass das Rätsel des Pyramidenbaus irgendwann endgültig gelöst wird?
Da Baubeschreibungen aus der Zeit des Alten Reiches leider nicht vorliegen, können wir nichts anderes tun, als alle Vorschläge auf der Grundlage der archäologischen Befunde wissenschaftlich genau zu untersuchen und zu diskutieren. Wenn es zu meiner Hypothese keine grundlegenden Einwände gibt, wird sie irgendwann zur Theorie. Um die tatsächliche Bauweise der Pyramiden aber definitiv beschreiben zu können, müssten schon wesentliche neue archäologische Befunde entdeckt werden. Und die sind nicht in Sicht.
Die Fragen stellte Simon Beuck.