Die Berichte der Bibel haben sie bekannt gemacht: Als die Israeliten aus Ägypten ins gelobte Land Kanaan zogen, stießen sie dort auf Menschen einer hochentwickelte Kultur: Die Kanaaniter lebten in einem Teil des östlichen Mittelmeers, der heute Israel, Palästina, Libanon, Syrien und Jordanien umfasst. Aus der historischen Überlieferung ist bekannt, dass ihre Kultur erheblichen Einfluss auf den Nahen Osten und darüber hinaus besaß: Die Kanaaniter schufen beispielsweise das erste Alphabet und etablierten schließlich Kolonien im ganzen Mittelmeerraum – später bezeichnete man sie dort als die Phönizier.
Ein mysteriöses Volk
Trotz ihrer Bedeutung ist allerdings wenig über die Kanaaniter bekannt – vor allem nicht über ihren Ursprung und ihr Schicksal im Nahen Osten. Da sie ihre Aufzeichnungen meist auf vergänglichem Material niederschrieben, gibt es nur wenige direkte Zeugnisse ihrer Kultur. Der Bibel zufolge wurden die Kanaaniter nach der Eroberung ihrer Städte ausgelöscht. Falls dies tatsächlich so war, dürften sie demnach kaum genetische Spuren im Erbgut der heutigen Menschen dieser Region hinterlassen haben.
Um Licht in diese Geschichte zu bringen, haben Forscher um Marc Haber vom Wellcome Trust Sanger Institute im britischen Hinxton nun zu Mitteln der Genetik gegriffen: Sie haben die Genome von fünf kanaanäischen Menschen sequenziert, die vor fast 4000 Jahren in der heutigen libanesischen Stadt Sidon gelebt haben. Als Vergleichsmaterial nutzten sie die Genome von 99 Menschen, die heute in dieser Region leben. Die Sequenzvergleiche der alten und modernen Genome ermöglichten es den Forschern, die Abstammung der Kanaaniter zu analysieren und ihre Beziehung zu den Leuten zu klären, die heute im Libanon leben.
Genetische Kontinuität
“Anhand der genetischen Merkmale zeichnete sich ab, dass die Kanaaniter eine Mischung aus Menschen waren, die dort seit der Jungsteinzeit lebten und von Einwanderern aus dem Osten, die vor etwa 5000 Jahren in der Region angekommen waren”, sagt Haber. Für eine spätere Vernichtung der Kanaaniter im Nahen Osten fanden er und seine Kollegen jedoch keine Hinweise – im Gegenteil: “Die heutigen Libanesen scheinen die direkten Nachkommen der Kanaaniter zu sein”, so Haber. Sein Kollege Chris Tyler-Smith führt aus: “Über 90 Prozent des genetischen Hintergrunds der heutigen Libanesen scheint von den Kanaanitern zu stammten. Angesichts der enorm komplexen Geschichte dieser Region in den letzten Jahrtausenden war dies ein überraschendes Ergebnis”, so der Forscher.
Das Team fand allerdings durchaus auch genetische Spuren eines Einflusses von fernen Bevölkerungsgruppen, bei denen es sich wahrscheinlich um die Assyrer, Perser oder Mazedonier handelte. Dies passt zu den Einschätzungen, wann die genetischen Einmischungen entstanden waren: Bestimmte genetische Merkmale lassen vermuten, dass es vor etwa 3800 bis 2200 Jahren zu den fremden Einkreuzungen gekommen war – also in der Zeit, als die ansässige Bevölkerung vielen Eroberungen ausgesetzt gewesen war. Dennoch ist den Forschern zufolge die auffällige Kontinuität in der Region das wichtigste Ergebnis: Es hat seit der Bronzezeit eine starke genetische Tradition gegeben.
Neben diesen konkreten Ergebnissen zeigt die Studie generell, welche interessanten populationsgeschichtlichen Hintergründe die moderne Genetik aufdecken kann, betonen Haber und Tyler-Smith. Diesem Forschungsgebiet wollen sie nun auch weiter treu bleiben: Sie planen, die frühere und spätere genetische Geschichte der Region nun noch weiter aufzuschlüsseln und die Untersuchungen auf umliegende Teile des Nahen Ostens auszuweiten.