1957 war tatsächlich ein erstaunliches Wendejahr, nicht nur, weil – national gesehen – der Bundestag am 3. Mai endlich den Gesetzentwurf verabschiedete, der die Gleichberechtigung von Mann und Frau vorsah, und – international gesehen – die Römischen Verträge unterzeichnet wurden, mit denen die europäische Einigung auf den Weg kam. Es gibt für diese Einschätzung noch andere Gründe:
“Während sich bis dahin das wirtschaftliche Wachstum [in der Bundesrepublik Deutschland] mehr extensiv vollzog, wurde seit 1957 dem technischen Fortschritt eine entscheidende Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Wachstums zugeschrieben.” In diesem Jahr “sank die Arbeitslosigkeit erstmals unter vier Prozent” und “die Verknappung der Arbeitskräfte wurde mehr als jemals zuvor in der deutschen Geschichte zum Technisierungsimpuls.” Und: “1957 startete der sowjetische Erdsatellit Sputnik, und der Sputnik-Schock wirkte in der westlichen Welt noch lange nach.” So schreibt Joachim Radkau in seiner ausgerechnet im klassischen Wendejahr 1989 erschienenen Geschichte der “Technik in Deutschland” eher allgemein, um danach den „tiefen Bruch von epochaler Bedeutung”, der sich 1957 vollzog, konkret im Alltag anzusiedeln.
Kühlschrank, Pizza, Waschmaschine
Ich konnte damals zum Gymnasium wechseln und erinnere mich an viele Dinge, die der Historiker beschreibt. Was gab es nicht alles zu Hause und überhaupt: “Kühlschrank, Waschmaschine, das Fertiggericht aus der Tiefkühltruhe, Anti-Baby-Pille, Mittelmeerreise, Pizzeria, Diskothek: Aus all diesen Requisiten entwickelte sich ein neuer Lebensstil”, wie der Historiker Radkau zu berichten weiß.
Diese Dinge kamen auch bis zu meiner Familie, in der allerdings das im letzten Zitat zuerst angeführte Gerät noch lange Zeit hartnäckig mit dem alten Namen “Eisschrank” bezeichnet wurde, in das man die langen Eisstangen zu stecken pflegte, die in meinen Kindertagen auf Pferdewagen geliefert wurden. Damit war es jetzt aber ebenso vorbei wie mit den Radiozeiten und der Lieblingssendung meiner Eltern am Samstagnachmittag, “Montag ist erst übermorgen”. Jetzt hielt der Fernsehapparat massiv Einzug in die deutschen Wohnstuben – nicht nur bei uns zu Hause –, was die Freizeitgewohnheiten der Menschen bald zugleich “dominierte und nivellierte”, und zwar “weit mehr, als dies alle früheren Innovationen vermocht hätten”, wie Radkau – traurig aber wahr – urteilt.
“Blauer Himmel über der Ruhr”
1957 spürte man im Übrigen auch, dass nicht alles Gold war, was wissenschaftlich glänzte. In diesem Jahr richtete zum Beispiel der Verband Deutscher Ingenieure eine erste Kommission für die “Reinhaltung der Luft” ein. Dieser Gedanke hielt sich, denn 1961 versuchte die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten Willy Brandt dadurch zu punkten, dass sie den Menschen einen “Blauen Himmel über der Ruhr” versprach.
Einige Forscher machten sich plötzlich Gedanken über ein atmosphärisches Treibhausgas wie Kohlendioxid, das aus den Autos kam, die in diesen Tagen zum normalen Zubehör des Lebens wurden und die Krafträder alter Prägung ablösten. 1967 gab es erste Andeutungen aus der Wissenschaft, dass sich mit den zu erwartenden Mengen an CO 2 die Temperatur der Erde um ein paar Grad erhöhen könnte. Aber solche Hinweise galten damals noch als zu fantastisch, um irgendein öffentliches Bewusstsein zu erreichen oder gar politisch ernst genommen zu werden.
Das erste Internationale Geophysikalische Jahr
Und 1957startete der russische Sputnik ins All – und die Menschheit begann, die Erde aus dem Weltall zu betrachten. Schließlich fanden sich über 60 Staaten zusammen, um ein Internationales Geophysikalisches Jahr zu organisieren, das offiziell vom 1. Juli 1957 bis zum 31. Dezember 1958 dauerte. In dieser Zeit sollten weltweite Forschungen unter anderen in den Bereichen Erdbebenkunde, Gletscherkunde, Ozeanographie und Meteorologie durchgeführt werden.
Deren Ergebnisse prägen bis heute das bunte Bild der von Menschen bewohnten Welt, auch wenn vielen Zeitgenossen der ursprüngliche Anlass nicht mehr im Gedächtnis geblieben ist. Abschließend sei der Hinweis gestattet, dass die gegenwärtig gern verwendete Rede von der Globalisierung aus der Perspektive der Geophysik ein alter Hut ist, den sie spätestens seit den 1950er-Jahren und wahrscheinlich sogar schon im 19. Jahrhundert getragen hat – und der ihr zu Gesicht steht.