Auch in unscheinbaren Absplitterungen können wichtige Informationen für die Wissenschaft stecken, geht aus einer Studie hervor: 300.000 Jahre alte Feuerstein-Fragmente vom niedersächsischen Fundort Schöningen geben Hinweise auf den Werkzeuggebrauch in der Altsteinzeit. Es handelt sich um kleine Bruchstücke der Schneidewerkzeuge, die beim Nachschärfen entstanden sind. Sie können damit Informationen über den Gebrauch der Ursprungsstücke liefern, erklären die Wissenschaftler.
Der Ort Schöningen in Niedersachsen ist berühmt für seine Funde aus der Zeit vor rund 300.000 Jahren: Dort wurden neben zahlreichen tierischen Überresten verschiedene Spuren menschlicher Präsenz entdeckt. Sie werden Homo heidelbergensis oder frühen Neandertalern zugeordnet. Besonders bedeutend war dabei der Fund der ältesten weltweit bekannten Holzspeere. 2020 berichteten Archäologen über eine weitere spannende Entdeckung in Schöningen: Sie stießen auf das nahezu vollständiges Skelett eines eurasischen Waldelefanten, der offenbar an dem einstigen Seeufer verendet war. Das Besondere: „Wir konnten belegen, dass sich menschliche Wesen in der Nähe des Elefantenkadavers aufhielten“, sagt Co-Autor Jordi Serangeli von der Universität Tübingen.
Von Werkzeugen abgesplittert
Im Bereich des Skeletts wurden drei Artefakte aus Knochen entdeckt, die als Arbeitsgeräte für das Nachschärfen von Steinwerkzeugen interpretiert werden. Dazu passend fanden sich auch zahlreiche Splitter aus Feuerstein, die meist kleiner als ein Zentimeter sind. Es handelt sich demnach offenbar um den Abfall, der bei der Bearbeitung entstanden ist. Diesen Fragmenten haben die Wissenschaftler nun eine Studie gewidmet. Erst-Autorin Flavia Venditti von der Universität Tübingen sagt dazu: „Man ist geneigt zu glauben, dass große Werkzeuge wie Messer, Schaber und Spitzen bedeutender sind als einfache Absplitterungen, insbesondere wenn diese klein und eigentlich nur Verarbeitungsreste sind. Doch selbst mikroskopisch kleine Splitter können uns im Zusammenhang mit dem gesamten Befund viel über die Lebensweise unserer Vorfahren verraten“, so die Wissenschaftlerin.
Das Team untersuchte die insgesamt 57 kleinen Steinartefakte in einem multidisziplinären Ansatz, der technologische und räumliche Analysen umfasste. „Durch die Analyse von Gebrauchsspuren und Rückständen sowie Methoden der experimentellen Archäologie konnten wir die Steinsplitter sozusagen zum Sprechen bringen“, sagt Venditti. Grundsätzlich bestätigte sich zunächst: „Die Absplitterungen stammen von messerartigen Werkzeugen, sie sind beim Nachschärfen entstanden“, so Venditti. Sie sind ihr zufolge offenbar liegengeblieben, während die Menschen ihre Werkzeuge wieder mitgenommen haben.
Bearbeitung von Holz und Fleisch
Im Detail zeigten die Analysen: Fünfzehn Stücke wiesen Nutzungsspuren auf, wie sie typischerweise bei der Bearbeitung von frischem Holz entstehen. „Auch blieben mikroskopisch kleine Holzreste an den ehemaligen Arbeitskanten der Werkzeuge haften“, sagt Venditti. In einem Fall konnten die Forscher auch Spuren von tierischem Gewebe nachweisen. Das Fragment stammte demnach offenbar von einem scharfkantigen Feuerstein, den die Menschen damals verwendeten, um frisches Tiergewebe zu bearbeiten. „Wahrscheinlich wurde dieser Feuerstein beim Zerteilen des Elefanten genutzt“, erklärt Venditti.
Die Ergebnisse sind damit ein weiterer Beleg für die kombinierte Nutzung von Stein-, Knochen- und Pflanzentechnologien der menschlichen Wesen, die vor 300.000 Jahren im Bereich des einstigen Sees gelebt haben, sagen die Forscher. Seniorautor Nicholas Conard von der Universität Tübingen hebt zudem die wegweisende Bedeutung der Studie hervor: „Sie zeigt, wie durch detaillierte Analysen von Gebrauchsspuren und Mikroresten auch an kleinen Steinartefakten, denen oft keine große Beachtung geschenkt wird, Informationen gewonnen werden können. Es ist das erste Mal, dass solch umfassende Ergebnisse vorgelegt werden“, so der Wissenschaftler. Dabei sei allerdings eine akribische Vorgehensweise gefragt: „Die Voraussetzung ist, dass die Steinartefakte von der Ausgrabung bis zur Untersuchung äußerst sorgfältig behandelt werden“, betont Conard.
Quelle: Universität Tübingen, Fachartikel: Scientifics Reports, doi: 10.1038/s41598-022-24769-3