Vor rund 6.000 Jahren begannen die ersten Menschen, sich auf den karibischen Inseln niederzulassen. Genetische Analysen zeigen nun, dass die Besiedlung in zwei Wellen erfolgte. Die archaische Bevölkerung wurde demnach vor etwa 1.700 Jahren von Siedlern aus Südamerika größtenteils verdrängt. Danach gab es lange keinen relevanten genetischen Austausch mehr mit dem Festland. Dafür waren die genetischen und kulturellen Beziehungen zwischen den Inseln intensiver als bislang angenommen. Das zeigt sich sowohl an geteiltem Erbgut als auch an archäologischen Artefakten wie Töpfereien. Als Kolumbus die Inseln 1492 entdeckte, waren sie den neuen Analysen zufolge dünner besiedelt, als historische Berichte vermuten lassen.
Die Besiedlung der karibischen Inseln begann vor rund 6.000 Jahren. Doch woher kamen die Menschen, die sich in den Regionen niederließen, die wir heute als Bahamas, Kuba, die Dominikanische Republik, Haiti, Puerto Rico, Guadeloupe, St. Lucia, Curaçao oder Venezuela kennen? In welchem Verwandtschaftsverhältnis standen sie zueinander? Wie viele Menschen lebten in der Karibik, als die Spanier dort ankamen? Und lassen sich noch heute genetische Spuren der indigenen Gruppen im Erbgut der karibischen Bevölkerung entdecken?
Alte DNA von Ureinwohnern
Mit diesen Fragen hat sich ein internationales Team um Daniel Fernandes von der Universität Wien auseinandergesetzt. Die Forscher analysierten dazu das Erbgut von 174 Individuen, die im Zeitraum vor 3.100 bis 400 Jahren in der Karibik gelebt haben. Zusätzlich bezogen sie frühere Erbgutanalysen von 89 weiteren Individuen ein und griffen auf archäologische Erkenntnisse zurück, die beispielsweise Aufschluss über die Töpferkunst der damaligen Menschen geben. „Unser Ziel war es, nicht nur die Herkunft der Menschen zu untersuchen, die vor dem Erstkontakt mit Europäern in der Karibik lebten, sondern auch deren regionale Interaktionsnetzwerke genau zu beleuchten“, erklärt Fernandes.
Die ursprüngliche, archaische Bevölkerung der Karibik stammte den Analysen zufolge wahrscheinlich von einer einzigen Populationsgruppe aus dem nördlichen Südamerika oder Mittelamerika ab. Eine direkte genetische Beziehung mit bekannten indigenen Gruppen aus diesen Gebieten ließ sich allerdings nicht nachweisen, sodass der genaue Ursprung unklar bleibt. Anders als frühere Studien nahelegten, halten es die Forscher aber anhand ihrer Daten für unwahrscheinlich, dass die ersten Menschen in der Karibik aus Nordamerika kamen.
Austausch zwischen den Inseln
Vor mindestens 1.700 Jahren kam dann eine neue Bevölkerungsgruppe in die Region. Aus dem nordöstlichen Südamerika stammend breiteten sich diese Menschen von den Inseln der Kleinen Antillen über die gesamte Karibik aus. Diese Menschen, die das Töpferhandwerk mitbrachten, verdrängten nach und nach die archaische Bevölkerung, die Steinwerkzeuge nutzte. Einen genetischen Austausch zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen gab es dabei jedoch kaum: Von den über 200 analysierten Individuen, die seit dieser Zeit in der Karibik lebten, hatten nur drei Menschen in ihrem Erbgut Anteile beider Gruppen.
Über die folgenden Jahrhunderte hinweg blieb der Genpool der karibischen Bevölkerung weitgehend unverändert, wie die Analysen nahelegen. Die archäologischen Relikte von Töpferwaren aus jener Zeit weisen hingegen beträchtliche Veränderungen im Stil auf. Frühere Forschungen sahen darin Hinweise auf einen Austausch mit dem Festland. „Wir sehen hier eine bemerkenswerte genetische Kontinuität, während sich gleichzeitig der Keramikstil verändert“, erklärt Co-Autorin Kendra Sirak von der Harvard Medical School. „Die Frage ist: Betraf der Austausch nur Gefäße oder auch Menschen? Unseres Wissens nach waren es nur die Gefäße.“
Auch wenn ein kultureller Austausch mit dem Festland womöglich eine Rolle gespielt haben könnte, gehen die Forscher davon aus, dass insbesondere der Kontakt zwischen den Völkern der verschiedenen Inseln zu Innovationen geführt hat. „Unsere Ergebnisse unterstützen die Theorie, dass die Völker des Keramikzeitalters gut miteinander vernetzt waren, was als Katalysator für die Verbreitung neuer Keramikstile in der gesamten Region hätte wirken können“, sagt Fernandes.
Bevölkerung kleiner als gedacht
Auch die genetischen Daten bekräftigen die engen Verbindungen zwischen den Populationen der einzelnen Inseln. So entdeckten die Forscher 19 Paare von Individuen, die Cousins zweiten oder dritten Grades waren und auf verschiedenen Inseln lebten. „Dass wir Verwandtschaftsbeziehungen über mehrere Inseln hinweg nachweisen konnten, ist ein verblüffender Schritt vorwärts“, sagt Co-Autor William Keegan vom Florida Museum of Natural History. Angesichts der Tatsache, dass Winde und Strömungen zwischen den Inseln Überfahrten schwierig gemacht haben, sei das Ergebnis überraschend.
Aus den Verwandtschaftsbeziehungen können die Forscher zudem Rückschlüsse auf die Bevölkerungsdichte ziehen. Aus den genetischen Daten geht hervor, dass die karibischen Ureinwohner Verbindungen zwischen engen Verwandten vermieden haben. Dennoch war ein verhältnismäßig hoher Anteil der untersuchten Individuen über wenige Ecken verwandt. „Das deutet auf eine geringe Bevölkerungsdichte hin“, so die Autoren. In der Region Puerto Rico, Haiti und Dominikanische Republik lebten den Schätzungen zufolge nur wenige zehntausend Menschen, als die Europäer ankommen. Das widerspricht historischen Schilderungen, die von hunderttausenden oder gar Millionen Einwohnern berichten. Keegan zufolge könnte es sich bei diesen Berichten womöglich um bewusste Übertreibungen gehandelt haben, die beispielsweise Kolumbus nutzte, um seine Auftraggeber zu beeindrucken.
Genetische Spuren bis heute
Spuren des indigenen Erbguts aus der Zeit vor dem Erstkontakt mit Europäern finden sich noch heute im Erbgut der karibischen Bevölkerung. Je nach Region kommen die Forscher auf Werte zwischen vier und 14 Prozent. Weitere Anteile im Erbgut stammen von Europäern (bis zu 70 Prozent) sowie von Menschen aus Afrika, die als Sklaven in die Karibik gebracht wurden. „Die Analysen der uralten DNA bringen unser Verständnis der Karibik einen großen Schritt vorwärts“, so Keegan. „Die Methoden, die bei dieser Studie zum Einsatz kamen, haben Antworten auf Fragen gegeben, von denen ich vorher nicht gedacht hätte, dass man sie überhaupt beantworten kann.“
Quelle: Daniel Fernandes (Universität Wien) et al., Nature, doi: 10.1038/s41586-020-03053-2