Staubig und trocken war es in den Lagerhallen von Fritz Henkel. Hunderte von Jutesäcken stapelten sich Anfang des letzten Jahrhunderts in den roten Klinkerbauten in Düsseldorf-Holthausen 15 Meter hoch bis unter das Dach. Sie waren prall gefüllt mit dem, was der gewiefte Kaufmann in Massen brauchte: Palmkerne und Sojasaat. Mit schweren Industriemühlen pressten die Arbeiter das Öl aus den Körnern heraus – die Essenz für Henkels Waschmittel, die ihn berühmt gemacht hatten. Mischte und erhitzte man das Öl mit Pottasche, verseifte es. Die Seife wiederum war die Grundlage für die damaligen Waschmittel.
Firmengründer Fritz Henkel, sein Sohn Hugo und alle anderen Nachfolger sind den Rohstoffen aus der Natur stets treu geblieben – obgleich seit Ende des Zweiten Weltkriegs synthetische Wasch- und Reinigungsmittel immer populärer geworden sind. Vor fünf Jahren lagerte das Unternehmen seinen Öl- und Fettzweig, die Oleochemie, in die neu gegründete Tochterfirma Cognis Oleochemicals aus. Ganz in der Tradition Henkels ist diese Firma heute nach eigenem Bekunden „der weltweit größte Hersteller von Spezialchemikalien auf der Basis nachwachsender Rohstoffe”. Aus den Bio-Ölen gewinnt das Düsseldorfer Unternehmen jährlich allein mehrere Hunderttausend Tonnen so genannter Fettalkohole. Diese lang gestreckten Moleküle sind die Vorstufe moderner Tenside, die man für Kosmetika, Shampoos, Wasch- und Putzmittel benötigt.
Dass ein Chemiekonzern überwiegend auf nachwachsende Substanzen setzt, hat allerdings Seltenheitswert. Insgesamt machen die Materialien aus der Natur in der deutschen chemischen Industrie nur etwa zehn Prozent aus. Wichtigste Rohstoffquelle ist das Erdöl. Das wird zu Tausenden verschiedener Produkte verarbeitet, die fast jeder braucht: zu Kunststoffen für Trinkbecher oder Computergehäuse, zu Lacken für Möbel oder Autos und zu Klebern und Lösungsmitteln.
Damit setzt die chemische Industrie auf ein schwindendes Gut. In ein paar Jahrzehnten werden nach Schätzung von Experten die Erdölvorräte aufgebraucht sein – zumindest jene, die sich aus heutiger Perspektive noch rentabel gewinnen lassen. Doch es tut sich etwas. Angesichts der schrumpfenden Ölreserven und der steigenden Preise hat in den vergangenen Jahren ein Umdenken eingesetzt. Wissenschaftler in Chemieunternehmen, Forschungsinstituten und Universitäten haben die Natur als Rohstoffquelle neu entdeckt. Zucker, Stärke und Zellulose sind die wichtigsten Kandidaten für die Herstellung einer Vielzahl unterschiedlichster Produkte. Diese natürlichen Grundmaterialien bestehen aus einem Kohlenstoffgerüst, das sich in Zutaten für Kunststoffe, Lacke & Co umbauen lässt.
Doch bislang kann man die Rohstoffe vom Acker nicht so einfach in den Chemieanlagen nutzen. Denn alle Prozesse sind aufs Erdöl abgestimmt, das sehr reine Chemiebausteine von gleich bleibender Qualität liefert. Der klassische petrochemische Weg beginnt in der Raffinerie, in der man die Erdölbestandteile voneinander trennt und zu wertvollen Grundsubstanzen veredelt. Mit wenigen Schritten entsteht zum Beispiel Ethylen. Koppelt man viele Ethylen-Moleküle aneinander, bildet sich ein langkettiges Polymer, der Allerweltskunststoff Polyethylen.
Die Verwandlung der Bio-Rohstoffe fordert hingegen ganz neue Verfahren, deren Entwicklung seit einiger Zeit intensiv vorangetrieben wird. Eine wichtige Rolle spielen dabei Bakterien und Eiweiße. Durch eine genetische Veränderung ihres Erbguts trimmt man die Mikroorganismen auf die Produktion einer ganz bestimmten Substanz. In haushohen Edelstahltanks, den Fermentern, treiben Milliarden der Einzeller umher. Füttert man sie mit Zucker oder Stärke, schalten sie ihren Stoffwechsel auf Höchstleistung und bauen in ihren Zellen die gewünschte Substanz auf – beispielsweise einen Kunststoffbaustein, ein „Monomer”.
Die Pharmabranche nutzt Bakterien schon lange für die Herstellung von Arzneimitteln wie Insulin. Für die Produktion von Kunststoffen ist diese „Weiße Biotechnologie” – die Anwendung biotechnologischer Verfahren zur Herstellung von Chemikalien, von denen viele weiß sind – aber noch nicht etabliert. Das Problem: Um die begehrte Substanz aus dem Bakterienbad herauszuholen, ist eine aufwendige Reinigungsprozedur nötig, die Energie und Zeit kostet. Bei Medikamenten lohnt sich das – bei billigen Kunststoffen bislang nicht. „Während viele Medikamente etliche Tausend Euro pro Kilogramm einbringen, kosten die meisten der gebräuchlichen Kunststoffe nur einen Bruchteil davon”, sagt Stephan Freyer, Experte für nachwachsende Rohstoffe bei der BASF in Ludwigshafen.
Daher sind die Chemiestandorte der großen Hersteller ganz und gar auf Erdöl eingestellt. Zwar wird das „schwarze Gold” seit Jahren immer teurer. Noch aber ist es so günstig, dass die Herstellung von Kunststoffen, Lösungsmitteln und Lacken auf der Basis von Erdöl rentabel ist. Für eine Chemiefabrik, die im großen Stil nachwachsende Rohstoffe nutzt, müssten hingegen ganz neue Anlagen konzipiert und gebaut werden – riesige Fermenter zum Beispiel, die eine lohnende Produktion erst ermöglichen. Freyer: „ Einen großen Chemiestandort für die Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen umzubauen, würde Milliarden Euro kosten.” Daher gehen die Experten davon aus, dass sich die nachwachsenden Rohstoffe nur peu à peu in der chemischen Industrie etablieren werden. „ Nichtsdestotrotz”, betont Freyer, „arbeiten wir in unseren Labors intensiv an der Entwicklung der biotechnologischen Verfahren. Wir suchen beispielsweise nach geeigneten Genen oder Mikroorganismen und entwerfen Produktionsanlagen, um diese technologisch zu nutzen.” Um welche Substanzen und Mikroorganismen es sich dabei handelt, will Freyer aber nicht verraten.
Während sich die deutschen Chemieunternehmen dem Naturmaterial noch zögerlich annähern, preschen andere Firmen vor, die mit der chemischen Industrie an sich wenig zu tun haben – die Nahrungsmittelhersteller. Denn die sitzen seit jeher an der nachhaltigen Rohstoffquelle. Die Firma Roquette aus Lestrem in der nordfranzösischen Provinz etwa treibt derzeit die Umwandlung von Stärke in Kunststoffzutaten voran. Am Rande der kleinen Ortschaft erheben sich die weißen Lagerhäuser der größten europäischen Stärkefabrik über die flache Ackerlandschaft. Hier werden vor allem Mais und Weizen zu weißem Pulver zermahlen. Für gewöhnlich stellt Roquette daraus Nahrungsmittelzusätze her – etwa den Zuckeraustauschstoff Sorbitol, der in fast jedem zuckerfreien Kaugummi steckt.
Seit einiger Zeit zweigt das Unternehmen einen Teil der Maisstärke für eine Industrieanlage ganz anderer Art ab. In ihr produziert die Firma Isosorbit – ein Grundmolekül zur Herstellung von Polyestern oder des altbewährten Plastikflaschenmaterials Polyethylenteraphthalat (PET). „Isosorbit ist ein schönes Beispiel für einen ,grünen Kunststoff‘, der das ganze Potenzial der nachwachsenden Chemie-Rohstoffe zeigt”, sagt Christophe Rupp-Dahlem, Leiter des Entwicklungsbereichs für pflanzenbasierte Chemie bei Roquette.
Für das Unternehmen, das mit beiden Beinen in der Lebensmittelbranche steht, lohnt sich der Aufwand. Immerhin lockt die chemische Industrie als neuer Absatzmarkt. Rupp-Dahlem sieht gute Zukunftschancen für Isosorbit. Denn es hat etwas, das ein Öko-Kunststoff braucht, um für die Verarbeiter interessant zu sein: einen Mehrwert. Es macht Polymere widerstandsfähiger gegen Hitze. Mischt man es einem Kunststoff bei, kann der unbeschadet Temperaturen von mehr als 90 Grad Celsius überstehen. Das ist ein Vorteil etwa für Getränkehersteller, die Flüssigkeiten hocherhitzt abfüllen wollen, um sie länger haltbar zu machen.
Das US-amerikanische Agrarunternehmen Cargill ging noch einen Schritt weiter. Bereits vor ein paar Jahren hat der Konzern in Nebraska die weltweit erste Raffinerie aus dem Boden gestampft, in der Mais einzig und allein zu Kunststoff verarbeitet wird: zu Polymilchsäure. Rund 140 000 Tonnen jährlich spuckt die Anlage aus. Dazu wird die Maisstärke zunächst zu Glukosesirup abgebaut und anschließend von Bakterien in Milchsäure verwandelt. In einer Kettenreaktion verbinden sich die Milchsäure-Moleküle schließlich zu einem Polymer – der Polymilchsäure (PLA, Poly Lactid Acid). Das Tochterunternehmen Natureworks hat inzwischen die Produktionsanlage und den Verkauf der PLA übernommen. Aus ihr lassen sich Fasern spinnen, aus denen wiederum atmungsaktive T-Shirts und Outdoor-Jacken hergestellt werden. Auch für Verpackungen, Folien und Becher aus Plastik eignet sich der Kunststoff, der selbstverständlich biologisch abbaubar ist. Freilich ist Mais ein Nahrungsmittel und wird mit viel Dünger und auch Pestizideinsatz zur Reife gepäppelt. Doch Natureworks pflanzt nicht eigens Mais für die PLA-Produktion an, sondern nutzt bislang Ernteüberschüsse, die nicht für Lebensmittel gebraucht werden – und sonst weggeworfen würden.
Nicht allein die Nahrungsmittel- und Agrarkonzerne folgen dem Motto „zurück zur Natur”. Ganz unterschiedlich ausgerichtete, vor allem junge Unternehmen sehen ihre Zukunft in den nachwachsenden Rohstoffen. Sie sind klein und flexibel genug, um Ideen schnell zu realisieren und schleppen keine millionenschweren Maschinenparks mit sich herum, die Erdöl brauchen. Die US-Firma Metabolix, eine Ausgründung aus dem Massachusetts Institute of Technology in Cambridge bei Boston, hat sich auf eine Substanz spezialisiert, die auch deutsche Forscher seit Langem im Visier haben: die Polyhydroxyalkanoate (PHA). Dieser Stoff ist besonders wandlungsfähig. Durch geschickte Mischung der Zutaten lässt er sich so gestalten, dass er die Eigenschaften vieler traditioneller Kunststoffe annimmt. Metabolix-Geschäftsführer Daniel Gilliland hält PHA deshalb für eine aussichtsreiche Alternative zu Kunststoffen auf Erdölbasis.
PHA entsteht im Stoffwechsel von Bakterien – und dient den Einzellern als Energiereserve. Die Metabolix-Forscher haben die Bakterien genetisch so verändert, dass diese die Substanz im Überschuss produzieren. Gefüttert werden sie mit Maisstärke. Die Chemikalie muss anschließend aus dem Brutreaktor gefischt werden, doch das rechnet sich, sagt Gilliland. „Bislang haben Forscher versucht, PHA aus Konzentrationen von weniger als 25 Prozent zu holen”, sagt er, „da lohnt sich der Aufwand nicht.” Bei Metabolix arbeitet man hingegen mit Konzentrationen von 85 Prozent. „Damit ist uns der ökonomische Durchbruch gelungen”, freut sich Unternehmens-Chef Gilliland. Zwar sei die Produktion des Kunststoffs noch immer teurer als die von klassischem Plastik aus Erdöl. Mit dem steigenden Ölpreis würde sich die PHA-Herstellung aber zunehmend rentieren. Seit Oktober 2005 brummt in den Metabolix-Labors die erste Pilotanlage. Die Massenfertigung soll Anfang 2008 starten.
Noch fokussieren die verschiedenen Unternehmen und Forscher ihre Arbeit meist auf einzelne chemische Verbindungen. Eine neue Vision ist die „Bioraffinerie”, in der eine Fülle von Chemikalien aus Pflanzen gewonnen wird. „Es ist sinnvoll, die Syntheseleistung der Natur zu nutzen”, sagt Birgit Kamm, Leiterin des Instituts für Bioaktive Polymersysteme (Biopos) in Teltow bei Berlin. So bauen Pflanzen im Lauf ihres Lebens wertvolle Stoffe auf, die man direkt nutzen könnte: Eiweiße, Fette, Kohlenhydrate. Außerdem lassen sich diese Rohstoffe in der Bioraffinerie in chemische Grundbausteine verwandeln – so wie es die Petrochemie seit Jahrzehnten macht. Solche Bausteine sind Ethanol, Aminosäuren und die Milchsäure, aus denen man etwa Lösungsmittel und Kunststoff herstellen kann.
Die wichtigsten nachwachsenden Rohstoffe Holz und Stroh lassen sich derzeit allerdings noch nicht so leicht knacken, denn ihre Inhaltsstoffe Lignin und Zellulose bestehen aus besonders festen Molekülnetzen. Nicht einmal die Natur verfügt – abgesehen von einigen Pilzen – über wirkungsvolle Möglichkeiten, den Chemikaliencocktail schnell aufzulösen. Kein Wunder also, dass es lange dauert, bis tote Bäume verrottet sind. Die Biopos-Forscher arbeiten deshalb intensiv an einer Kombination von biotechnologischen, physikalischen und chemischen Methoden, um das feste Molekülnetz zu lösen. Dazu gehören ausgetüftelte Mahlwerke, die das Material zu winzigen Krümeln definierter Größe zerkleinern, oder eine Behandlung mit Säuren.
Derzeit engagieren sich die Teltower Forscher für den Bau einer Bioraffinerie auf Island, der 2006 beginnen soll. In der Pilotanlage sollen zunächst jährlich 20 000 Tonnen Gerstestroh und Alaska-Lupinen-Heu zu Ethanol verarbeitet werden. Daraus will Islandic Biomass, ein isländischer Biomasse-Verband, zusammen mit einem Konsortium mehrerer Unternehmen ein umweltfreundliches Antiklopfmittel für Benzin gewinnen. Als Nebenprodukt entsteht Lignin, das zu Polymeren weiterverarbeitet wird.
Das Bioraffinerie-Konzept ist für viele Forscher faszinierend, doch Trennung und Reinigung der Stoffe sind sehr schwierig. Für die Umsetzung der vollständigen Konzepte ist noch einiges an Forschung und Entwicklung erforderlich. Erste Ansätze sind jedoch bereits umgesetzt. Aussichtsreicher könnte es aber sein, Biomasse in großen Mengen in ein einziges Endprodukt zu verwandeln. Denn über solche einfachen Prozessketten kann man wirtschaftlich arbeiten und beim Preis mit Erdöl konkurrieren. Manche Forscher plädieren deshalb dafür, Biomasse mit dem so genannten Pyrolyse-Verfahren in einzelne Molekülbausteine zu zerlegen. Dabei wird die Biomasse zunächst in einem ersten Schritt zu einem ölähnlichen Zwischenprodukt verarbeitet. Der Vorteil: Der chemischen Industrie stünde ein Rohstoff zur Verfügung, der sich mit der bestehenden Anlagentechnik verarbeiten lässt.
Dass das sogar mit Stroh möglich ist, haben Wissenschaftler vom Institut für Technische Chemie am Forschungszentrum Karlsruhe (FZK) gezeigt. In einer bislang einmaligen Pilotanlage erhitzen die Karlsruher Wissenschaftler Stroh mit heißem Sand auf 500 Grad Celsius. Dabei entsteht zunächst ein schwarzes Öl-Koks-Gemisch – das so genannte Slurry. In einem zweiten Schritt wird das Slurry in Synthesegas verwandelt, das aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid besteht. Diese beiden Gase sind der Grundstoff für die Synthese von Kraftstoffen, Methanol oder eben auch diversen Chemikalien. Nach Berechnungen der Forscher am FZK fallen jährlich allein in Deutschland zirka 20 Millionen Tonnen Stroh an, die nicht in der Landwirtschaft benötigt werden. Daraus ließen sich etwa zehn Prozent des heimischen Kraftstoffbedarfs decken. Oder es könnte in die chemische Produktion gesteckt werden: Jedes Jahr importiert Deutschland rund 150 Millionen Tonnen Rohöl. Nur etwa sieben Prozent verbraucht die chemische Industrie. Der Großteil verbrennt in den Motoren der Kraftfahrzeuge. Folgt man den Berechnungen der Karlsruher Forscher, könnte theoretisch allein das Stroh den Hunger der chemischen Industrie nach Rohmaterial zur Herstellung von Chemikalien stillen.
„In der Regel lassen sich alle diese neuen Verfahren aber noch mit dem Kostenargument aushebeln”, sagt Görge Deerberg vom Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik in Oberhausen. „Keine Methode ist so kostengünstig wie die seit 50 Jahren etablierten petrochemischen Technologien.” So kostet die Herstellung von Polymilchsäure (PLA) aus nachwachsenden Rohstoffen rund 2 bis 2,5 Euro pro Kilogramm – etwa doppelt so viel wie die Gewinnung von Polyethylen oder Polypropylen aus Erdöl.
Selbst wenn das Öl zur Neige gehen sollte, blieben zunächst noch Kohle und Erdgas übrig, um daraus chemische Grundsubstanzen zu gewinnen. „Doch wenn man den Klimaschutz ernst nimmt und eine langfristig gesicherte Rohstoffbasis anstrebt, führt kein Weg an den nachwachsenden Rohstoffen vorbei”, ist Deerberg überzeugt. Deshalb engagiert sich der Verfahrenstechniker in einer Allianz von acht Fraunhofer-Instituten, um die Entwicklung der Weißen Biotechnologie voranzubringen.
Derzeit arbeitet Deerberg an einem Bioraffinerie-Konzept im Miniaturformat. Dabei untersucht er den gesamten Produktionszyklus von der Aufbereitung der Pflanze bis zum fertigen Kunststoff. Im Blickpunkt stehen besonders Produkte mit einzigartigen Eigenschaften, die sie konkurrenzlos machen. Zum Beispiel Kunststoffe auf der Basis von Bernsteinsäure: Sie können extrem fest sein und lassen sich etwa zu verschleißfreien Zahnrädern verarbeiten. Kostenargumente schlagen bei solchen Spezialstoffen nicht so stark zu Buche wie bei Massenprodukten.
Bernsteinsäure ist das Lieblingsmolekül von Görge Deerberg. Sie lässt sich in verschiedene chemische Bausteine umwandeln – und gehört zu jenen zwölf Grundchemikalien, die in einer Studie der US-Regierung zu den wichtigsten chemischen Verbindungen aus nachwachsenden Rohstoffen erkoren wurden. Aus diesen zwölf nachhaltigen Essenzen kann man laut der Studie alle wichtigen Stoffe für die moderne chemische Industrie herstellen.
Auch Deerberg arbeitet mit Mikroorganismen, die aus Zucker oder Stärke Bernsteinsäure bilden. Zudem vergleicht er unterschiedliche Methoden zum Abtrennen des Rohstoffs aus der Fermentationsbrühe und prüft, ob dazu Anlagen zum Verdampfen des Wassers oder Membranfilter besser geeignet sind. Zudem entwirft der Fraunhofer-Wissenschaftler Konzepte zur Vergrößerung der Anlagen. Das ist schwieriger, als es scheint. Denn es genügt nicht, einfach den Bioreaktor großzügiger auszulegen. Es muss beispielsweise auch der Rührer des Bakterienbades neu dimensioniert werden – so, dass die Einzeller durch ihn nicht geschädigt werden.
Die gewonnene Bernsteinsäure verwandeln Deerberg und seine Mitarbeiter durch chemische Behandlung zunächst in ein Rohpolymer. Danach mischen die Forscher dieses Material mit Zusatzstoffen zu „Compounds”, um gezielt bestimmte Kunststoffeigenschaften zu bekommen. Anschließend prüfen sie, wie gut sich das Material verarbeiten lässt, ob es zäh oder elastisch, durchscheinend oder matt ist. Nur so können die Forscher herausfinden, ob der Kunststoff mit etabliertem Plastik mithalten kann. Das ist unabdingbar, um den Kunden am Ende gleichwertige Produkte zu liefern. „Kein mittelständischer Kunststoffverarbeiter kann es sich leisten, seine Maschinen umzubauen, nur um Kunststoff aus nachwachsenden Rohstoffen zu nutzen – wenn nicht sichergestellt ist, dass die Qualität seiner Erzeugnisse nicht darunter leidet”, betont Deerberg.
Alfred Westfechtel hat es da leichter. Der Entwicklungschemiker beim Henkel-Ableger Cognis Oleochemicals kann auf Verfahren vertrauen, die in etlichen Jahrzehnten gewachsen sind. Das Unternehmen bietet Rohstoffe wie Fettsäuren, Glycerin und Ester für vielfältige Anwendungen an – und sogar biologisch abbaubare Bohrhilfsmittel für die Erdölförderung. Doch natürliche Öle und Fette sind teuer. Zunächst müssen die Pflanzen aufgepäppelt und anschließend die Öle aus ihnen herausgeholt und gereinigt werden. Bei der chemischen Verarbeitung achtet man deshalb peinllich genau darauf, jeden Nebenstrom an Reaktionsprodukten zu nutzen, um daraus wertvolle Handelsgüter zu gewinnen. Glycerin beispielsweise, das bei den meisten Verfahren in Massen als Nebenprodukt anfällt, lässt sich in Kosmetika vielfältig nutzen. Zudem kann man auch diese Substanz in ein Vorprodukt für Kunststoffe verwandeln: in 1,3-Propandiol für die Fertigung von Plastikflaschen. Es führen also viele Wege zum nachhaltigen Chemieprodukt – ohne Erdöl. ■
Tim Schröder, Biologe und Physiker, arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oldenburg. Ab Seite 106 berichtet er in diesem Heft auch über Sensoren in Autos.
Tim Schröder
COMMUNITY Internet
Industrieverband für Biokunststoffe (IBAW):
www.ibaw.org
Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik:
www.umsicht.fhg.de
Homepage der Firma Cognis GmbH:
www.cognis.de
Forschungsinstitut Bioaktive Polymersysteme (biopos):
www.biopos.de
Ohne Titel
• Nachwachsende Substanzen stellen bislang nur zehn Prozent der Rohstoffe für die deutsche Chemieindustrie.
• Die Umstellung etablierter, auf Erdöl basierender Produktionsverfahren auf Naturprodukte ist aufwendig und teuer.
• Deutsche Forscher beteiligen sich derzeit am Bau einer Bioraffinerie auf Island.
Ohne Titel
Chinas stark wachsende Volkswirtschaft hat im vergangenen Jahr den Ölverbrauch um fast 30 Millionen Tonnen oder 14 Prozent auf 309 Millionen Tonnen gesteigert. Der weltweite Bedarf an Erdöl stieg 2004 um gut 3 Prozent auf 3,8 Milliarden Tonnen. Damit hat sich der Ölverbrauch im Reich der Mitte in den letzten zehn Jahren um 150 Prozent erhöht. 2005 musste das Land Schätzungen zufolge rund die Hälfte seines Inlandsbedarfs importieren.
Chinas Anteil an der weltweiten Nachfrage nach Öl erhöhte sich 2004 im Vergleich zum Vorjahr von 7 auf 8 Prozent. Damit liegt das Land in der Rangliste der weltweit größten Ölverbraucher weiter auf Platz 2. Unangefochtener Spitzenreiter sind nach wie vor die USA, deren Ölkonsum sich 2004 nochmals um 2 Prozent oder rund 20 Millionen Tonnen auf 927 Millionen Tonnen erhöhte. Der Importanteil der USA ist wegen rückläufiger Eigenförderung mittlerweile auf 65 Prozent gestiegen. Vor zehn Jahren deckten die Vereinigten Staaten noch rund die Hälfte ihres Ölverbrauchs aus eigenen Quellen. Auf Platz 3 beim Ölverbrauch rangierte 2004 wieder Japan. Allerdings ist Japan das einzige Land mit hohem Ölkonsum, in dem der Verbrauch zurückging: um gut 1 Prozent auf 251 Millionen Tonnen. Viertgrößter Ölkonsument 2004 war Russland mit 132 Millionen Tonnen (plus 4 Prozent), gefolgt von Deutschland mit 124 Millionen Tonnen auf Rang 5.