Das Y-Chromosom ist im Vergleich zu seinem weiblichen Gegenpart, dem X-Chromosom, ziemlich kümmerlich: Es ist nur ein Drittel so groß und enthält gerade einmal ein Fünftel so viele Gene. Im Laufe seiner 300 Millionen Jahre langen Evolution hat es hunderte von DNA-Sequenzen verloren, das ist schon länger bekannt. Dennoch hat es eine wichtige Aufgabe: Bei den meisten Säugetieren wird das Y-Chromosom gebraucht, um das Programm zu durchkreuzen, das für die Entwicklung des Standardgeschlechts sorgt – den Frauen. Erst die Gene, die auf dem männlichen Geschlechtschromosom liegen, unterdrücken dieses Programm und fördern die Ausbildung der typisch männlichen Geschlechtsmerkmale. Diese wenigen, für diese Organe und männliche Fortpflanzung zuständigen Genen galten daher bisher als Hauptgrund dafür, dass es dieses Chromosom trotz Schrumpfung noch gibt.
Zwei Forschergruppen haben die Evolution des Y-Chromosoms und seine Genzusammensetzung nun noch einmal genauer untersucht – und werfen ein neues Licht auf den unverzichtbaren Winzling. Diego Cortez von der Universität von Lausanne und seine Kollegen belegen durch einen Genvergleich von 15 Säugetieren, Beuteltieren und Vögeln, dass das männliche Geschlechtschromosom schon vor rund 180 Millionen Jahren entstand. Daniel Bellott vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge und seine Kollegen verglichen die Gene des Y- und des X-Chromosoms bei acht Säugetieren, darunter dem Menschen, der Maus, dem Opossum und dem Rind. Dabei zeigte sich, dass 14 urzeitliche Gene des männlichen Geschlechtschromosoms immerhin 97 Millionen Jahre der Evolution fast unverändert überdauert haben, wie die Forscher berichten. “Und das sind nicht einfach irgendwelche Gene – sie sind die Elite”, konstatiert Laborleiter David Page. Diese Gene seien für unser Überleben extrem wichtig.
Regulierende Wirkung im gesamten Körper
So enthüllten weitere Analysen, dass auf dem Y-Chromosom ungefähr ein Dutzend Gene liegen, die zusammen mit ihren Gegenparts auf dem X-Chromosom das Ablesen der Protein-Bauanleitungen im Erbgut steuern – und dies im gesamten Körper von Männern. “Diese Gene sind an der Dekodierung und Interpretation des gesamten Genoms beteiligt”, betont Page. Wie groß ihr Einfluss auf den Körper sei, beginne man daher gerade erst zu erahnen. Das aber bedeutet, dass sich Männer und Frauen bis auf die kleinste Ebene ihres Organismus voneinander unterscheiden: Selbst ihre einzelnen Zellen in Haut, Lunge oder anderen Organen, funktionieren möglicherweise ein wenig anders. “Sie sind ähnlich, aber biologisch unterschiedlich”, sagt Bellott.
Dieser subtile Einfluss des Y-Chromosoms könnte nach Ansicht der Forscher auch erklären, warum Männer und Frauen unterschiedlich sensibel für bestimmte Krankheiten sind. Und es wirft auch ein neues Licht auf die Forschung an Zellkulturen: “Zellbiologen und Biochemiker studieren Zellen, ohne dass sie wissen oder beachten, ob diese XX oder XY sind – bisher hat niemand so richtig darauf geachtet”, erklärt Bellott. Das müsse sich zukünftig ändern, das Unisex-Modell der biomedizinischen Forschung sei überholt.
Quelle:
- Daniel Bellott (Massachusetts Institute of Technology, Cambridge) et al., Nature, doi: 10.1038/nature13206
- Diego Cortez (University of Lausanne) et al., Nature, doi: 10.1038/nature13151