Die Polargebiete galten lange als die letzten noch unberührten Regionen des Planeten. Aber selbst sie sind inzwischen einer zunehmenden Schadstoffbelastung ausgesetzt. Deshalb haben nun führende Wissenschaftler und Forschungseinrichtungen die „Berliner Erklärung“ veröffentlicht. In ihr formulieren sie zehn Handlungsempfehlungen für einen besseren Schutz der Polargebiete. Es müsse dringend gehandelt werden, so die Botschaft.
Ob Arktis oder Antarktis: Die Polargebiete sind einzigartige Lebensräume und wichtige Einflussfaktoren für globale Stoffkreisläufe und das Klima. Lange galten die eisigen Landschaften der Polarregionen als noch weitgehend unberührt und kaum vom Menschen beeinflusst. Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich dies geändert. Den eisigen Refugien setzt nicht nur der anthropogene Klimawandel stark zu, auch vom Menschen produzierte Schadstoffe werden durch Luft- und Wasserströmungen bis in die Polargebiete getragen.
“Wir müssen dringend handeln”
Doch wie groß das Ausmaß der polaren Schadstoffbelastung schon ist und welche Folgen es hat, ist bisher erst in Ansätzen bekannt. Auch auf welchen Wegen die Chemikalien bis in entlegene Regionen der Arktis und Antarktis gelangen, ist noch kaum erforscht. Entsprechend schwierig ist es daher, die fortschreitende Verschmutzung dieser wichtigen und einzigartigen Ökosysteme zu stoppen. Um dies zu ändern, haben nun Wissenschaftler aus aller Welt – darunter Polarforschende, Vertreter der EU-Kommission, des Arktischen Rats und der Antarktisvertragsstaatenkonferenz sowie führender Forschungseinrichtungen – die “Berliner Erklärung” verfasst.
In dieser Erklärung formulieren die Forschenden um Ralf Ebinghaus vom Hereon-Institut für Umweltchemie des Küstenraumes zehn Handlungsempfehlungen, mit denen die polare Umwelt besser vor Kontaminationen geschützt werden soll. “Polarregionen müssen im Hinblick auf das Monitoring, die Risikobewertung und das Management potenziell schädlicher Chemikalien stärker beachtet werden – das fordert schon das Vorsorgeprinzip”, betonen die Wissenschaftler. Dafür sei zum einen mehr Aufklärung und Überwachung nötig, zum anderen die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure bei der Eindämmung der Belastungen. Es müsse dringend gehandelt werden.
Vorsorgeprinzip, Überwachung und zentrale Koordinierung
Konkret lauten die zehn Empfehlungen:
1. Schärfung des Problembewusstseins in Politik und Öffentlichkeit
Klimawandel, Verlust der Biodiversität und Schadstoffbelastung hängen zusammen und stellen gemeinsam eine Gefahr für Ökosysteme dar, die sich in den Polregionen besonders auswirkt. Um das Bewusstsein für die Probleme der weit entlegenen Polargebiete zu wecken, müssen Medien und Bildungsprojekte die Probleme den Bürgerinnen und Bürgern nahebringen. Das Vorsorgeprinzip und die Strategien zur Überwachung, Abschwächung und Beseitigung der Schadstoffbelastung müssen indigenes und traditionelles Wissen berücksichtigen.
2. Anwendung des Vorsorgeprinzips
Das Vorsorgeprinzip ist ein Ansatz, der eine noch schlimmere Verschmutzung der Polargebiete verhindern soll, bevor es zu spät ist. Dafür sind frühzeitige Entscheidungen zum Schutz der arktischen und antarktischen Umwelt nötig. Dazu kann beispielsweise beitragen, das Ausmaß der Giftigkeit, Langlebigkeit und Umweltmobilität von Chemikalien besser als bisher zu untersuchen. Die Ergebnisse können dann bei Zulassungen und anderen Entscheidungen einbezogen werden.
3. Verbesserung der Vernetzung
Um aus Wissen Handlung abzuleiten, ist eine effektive Vernetzung und Kommunikation zwischen relevanten Akteuren und Interessengruppen nötig. So können die Forschungsfragen zielgerichteter adressiert werden, die von nationalen und internationalen Gremien und Entscheidern für ihre Beschlüsse benötigt werden, wie beispielsweise die Europäische Kommission, die Europäische Chemikalienagentur oder Stockholmer Konvention.
4. Bessere Nutzung von Überwachungsdaten
Bei rund 350.000 registrierten Chemikalien ist eine Priorisierung wichtig, wenn das Gefährdungspotenzial für polare Ökosysteme im Vordergrund stehen soll. Hierzu sollten die Kriterien der internationalen Regulierung herangezogen werden, besonders Langlebigkeit und Reichweite. Wichtig ist, dass harmonisierte Daten über das Vorkommen an beiden Polen regelmäßig erhoben und veröffentlicht werden.
5. Aktualisierung der Paradigmen zum Schutz der Polarregionen
Die Zahl der Schadstoffe nimmt rasant zu. Das wirft die Frage auf, ob die bestehenden Ansätze zu Bewertung und Management von Chemikalien noch zeitgemäß sind. Problematisch ist, dass Schadstoffe vermehrt nachgewiesen werden, die an den Polen nach bisherigen Bewertungen nicht zu erwarten wären. Derzeit gelten mehr als 800 Substanzen als „potenziell bedenklich für die Arktis“.
6. Ausbau und Harmonisierung der Überwachung
Während das Monitoring in der Arktis durch nationale und regionale Programme etabliert ist, ist dies für die Antarktis bisher nicht der Fall. Systematische Probenahmen und Datensammlungen müssen daher dort noch entwickelt werden. Für die Arktis sollten zudem vermehrt auch lokale Schadstoffquellen untersucht werden, darunter Emissionen der Öl- und Gasförderung, des Bergbaus, der Industrie und von militärischen Einrichtungen, aber auch von kommunaler Infrastruktur, Tourismus und Siedlungen, dem Betrieb von Forschungsstationen oder der Großfischerei.
7. Entwicklung innovativer Screening-Programme
Neben der klassischen, zielgerichteten chemischen Analytik sind inzwischen neue Ansätze verfügbar, die die Schadstoffüberwachung verbessern und die Einschätzung des Gefährdungspotenzials erleichtern können. Dazu gehören breite chemische Screeningverfahren, neue Modellansätze zur Wirkungsabschätzung sowie maschinelles Lernen zur Identifizierung neuer Problemstoffe.
8. Ausbau von Umweltprobenbanken
Umweltprobenbanken sind nationale Einrichtungen, die formelle Programme und standardisierte Protokolle für die Sammlung, Verarbeitung und Archivierung von Umweltproben für die künftige Forschung entwickeln und anwenden. Ihre Probenarchive bieten Möglichkeiten zur rückwirkenden Betrachtung und Bewertung zeitlicher und geografischer Veränderungen der Chemikalienbelastung der letzten Jahrzehnte. In der Arktis werden die Schadstoffprogramme schon systematisch durch Umweltprobenbanken unterstützt, für die Antarktis ist das ebenfalls dringend erforderlich.
9. Gewährleistung eines offenen Datenzugangs
Daten können heute schon von einzelnen etablierten Datenplattformen zu spezifischen Themen abgerufen werden oder sind in wissenschaftlichen Berichten oder Artikeln zu finden. Es fehlt allerdings ein zentraler, umfassender und offener Zugang zu Daten über Schadstoffe an den Polen. Generell gilt: Im Vergleich zur Arktis gibt es in der Antarktis erhebliche Datenlücken, die gefüllt werden müssen.
10. Einrichtung von digitalen Plattformen
Die digitale Einlagerung von Ergebnissen bereits vermessener Proben in langfristig zugänglichen Repositorien und virtuellen Umweltprobenbanken bietet neue Möglichkeiten für die nachträgliche Auswertung von Daten, wenn neue Methoden oder Erkenntnisse zu Schadstoffen in Polarregionen aufkommen.
“Es ist unsere Hoffnung, dass die Berliner Erklärung den Kern für die Entwicklung eines Netzwerks darstellt, das zu einer echten Plattform für polare Kollaboration ausgebaut werden wird”, schreiben Ebinghaus und seine Kollegen.
Quelle: Helmholtz-Zentrum Hereon; Fachartikel: Chemosphere, doi: 10.1016/j.chemosphere.2023.138530