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Winzige „Eismumien“ wiederbelebt

Rädertierchen aus dem Permafrost

Winzige „Eismumien“ wiederbelebt
Rädertierchen sind winzige mehrzellige Lebewesen, die auch in Böden leben können. (Bild: Michael Plewka)

Sie überlebten das Einfrieren und anschließend rund 24.000 Jahre im Kälteschlaf: Wissenschaftler haben uralte Rädertierchen aus dem Permafrost-Boden Sibiriens erweckt. Die Aufklärung der Mechanismen der erstaunlichen langen Überlebensfähigkeit könnten der Entwicklung von Techniken der Kryokonservierung zugutekommen, sagen die Forscher.

Für uns und die meisten Tiere und Pflanzen ist ein Einfrieren tödlich – Eiskristalle zerstören die komplexen Zellstrukturen und machen damit eine Wiederbelebung unmöglich. Doch es gibt Ausnahmen: Einige höhere Lebewesen können durch bestimmte Frostschutzsubstanzen in ihren Körperflüssigkeiten Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt überleben, haben frühere Studien bereits gezeigt. Die Dauer des möglichen Kälteschlafs ist bei den bekannten frostresistenten Insekten und Amphibien eher begrenzt. Doch einige Pflanzenarten sowie winzige Nematoden-Würmer haben bereits gezeigt, dass sie Jahrtausende im Eis überstehen können. Jetzt fügen die Forscher um Stas Malavin vom Soil Cryology Laboratory im russischen Pushchino Rädertierchen (Rotifera) der Liste der höheren Organismen hinzu, die erstaunlich lange im Zustand des eisigen Scheintods überleben können.

Bodenproben aus eisiger Tiefe

Es handelt sich um eine artenreiche Gruppe von meist unter einem Millimeter großen Tieren, die am Kopf bewegliche Wimpernkränze besitzen, mit denen sie sich Nahrungspartikel zuführen. Rädertierchen kommen in vielen aquatischen oder feuchten Lebensräumen der Erde vor. Sie leben im Moos oder zwischen Bodenpartikeln ebenso wie in Gewässern. Die Winzlinge sind bereits für ihre Zähigkeit bekannt: Sie können Nahrungs- und Sauerstoffmangel, Austrocknen und Einfrieren überleben, haben Untersuchungen bereits gezeigt. Welche Extreme die letztgenannte Fähigkeit erreichen kann, haben Malavin und seine Kollegen nun durch Untersuchungen von Bohrkernen aus dem Permafrostbodens Sibiriens aufgedeckt. Sie stammen aus einer Tiefe von 3,5 Metern und wurden durch Techniken gewonnen, die eine Kontamination mit Material aus oberen Schichten verhindern.

Wie die Wissenschaftler berichten, entdeckten sie unter dem Mikroskop, wie einige in dem Eis eingeschlossene Rädertierchen nach dem Auftauen quicklebendig wurden. Sie konnten sich anschließend auch durch sogenannte Parthenogenese erfolgreich fortpflanzen. Die genaueren Untersuchungen zeigten dann, dass es sich bei den Auferstandenen um Vertreter aus der Gattung Adineta handelt. Um zu bestimmen, wie lange die Tierchen im Kälteschlaf gelegen haben, führten die Forscher eine Radiokarbondatierung des organischen Materials der Proben durch. Dies ergab ein Alter von etwa 24.000 Jahren. “Wir konnten damit belegen, dass diese mehrzelligen Tiere Zehntausende von Jahren im Zustand der sogenannten Kryptobiose überstehen können”, sagt Malavin.

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Erstaunlich nachhaltige Frostresidenz

Um den Prozess des Einfrierens und der Wiederbelebung zu untersuchen, froren die Forscher anschließend einige Nachkommen der Rädertierchen aus den Proben sowie heutige Vertreter der Adineta bei minus 15 Grad Celsius im Labor ein und tauten sie eine Woche später wieder auf. Dabei zeigte sich, dass alle eine ähnlich gute Fähigkeit besitzen, der Bildung von Eiskristallen bei einem langsamen Einfrierprozess zu widerstehen.

Offensichtlich besitzen die Adineta-Rädertierchen demnach Mechanismen, um ihre Zellen und Organe vor Schäden durch extrem niedrige Temperaturen zu schützen. Welche dies sind, wollen die Wissenschaftler nun durch weitere Untersuchungen klären. Außerdem planen sie, mehr Proben aus der Arktis zu untersuchen, um möglicherweise noch andere Organismen aufzudecken, die zu einer Langzeit-Kryptobiose fähig sind. Die Hoffnung ist dabei, dass Erkenntnisse über die Biologie frostresistenter Lebewesen Anhaltspunkte dafür liefern können, wie man Zellen, Gewebe und Organe von Tier und Mensch besser kryokonservieren kann.

“Methoden des Einfrierens und Wiederbelebens von Menschen nach langer Zeit sind bisher Science-Fiction”, so Malavin. “Kryokonservierung ist umso schwieriger, je komplexer ein Organismus ist – für Säugetiere ist das derzeit nicht möglich“. Auf dem Weg zur Entwicklung entsprechender Verfahren können Untersuchungsergebnisse wie die aktuellen wichtig sein, sind die Forscher überzeugt: „Unsere Entdeckung ist nicht nur für die Biologie interessant, sondern auch für praktische Anwendungen in der Kryokonservierung und Biotechnologie“, schreiben Malavin und seine Kollegen abschließend.

Quelle: Cell Press, Fachartikel: Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2021.04.077

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