„Ich selbst war 300 Fuß tief unter der Erde”, berichtet der Arzt, Pfarrer und Naturgelehrte William Stukeley 1756, „dort wanderte ich immer tiefer, bis ich mich unter dem Bett des Ozeans befand und Schiffe über unsere Köpfe segelten.”
Stukeley war tief in die Kohlemine von Sir James Lowther in Whitehaven hinabgestiegen, um herauszufinden, wie Erdbeben funktionieren. Diese Forschung drängte, denn für die Menschen des 18. Jahrhunderts schien es, als lebten sie in einer Zeit, die besonders häufig von starken Erdbeben heimgesucht wurde: 1692 wurde Port Royal in Jamaika zerstört, 1693 Catania in Sizilien, 1726 Palermo, 1746 Lima in Peru. 1750 zitterte in London leicht die Erde und löste eine Massenpanik aus, 1755 verwüstete ein Seebeben die portugiesische Hauptstadt Lissabon, und 1756 wurde Köln erschüttert. Wie kommen Erdbeben zustande? Das war eine der wichtigsten Fragen der Wissenschaft im 18. Jahrhundert.
Der Hamburger Konsul in Lissabon, Christian Stoqueler, beschrieb, was er erlebte, als am 1. November die portugiesische Hauptstadt durch ein gewaltiges Erdbeben zerstört wurde. „Zuerst hörten wir ein Rumpeln, wie das Geräusch einer Kutsche, es schwoll immer mehr an, bis es so laut war, wie der Lärm der lautesten Kanone, sofort danach spürten wir den ersten Erdstoß” – ein Geräusch, wie nach dem Schuss einer Kanone. Haben also eine abgefeuerte Kanonenkugel und ein Erdbeben die gleiche Ursache? Diese Ansicht dominierte im 18. Jahrhundert. Man wusste, dass alle Chemikalien, die man zum Herstellen von Schießpulver benötigte, auch unter der Erde vorhanden waren: besonders Salpeter, Eisen und Wasser. Diese Zutaten könnten durch unterirdische Erdrutsche vermengt werden, war eine Vermutung. Oder schweflige Dämpfe zögen durch Ritzen und Höhlen, bis sie auf Eisen treffen und sich zu schießpulverähnlichem Gas vermischen. Dann würde ein Funke genügen, damit die Erde bebt.
Im Jahr 1700 fand der französische Chemiker Louis Lemery dann eine Möglichkeit, ein Erdbeben im Experiment nachzustellen. Es wurde später sogar in etlichen Büchern für den unterhaltsamen Zeitvertreib abgedruckt: „Wie man ein künstliches Erdbeben hervorruft. Man nehme 20 Pfund Eisenspäne, füge gleich viel Pfund Schwefel hinzu. Man knete das Ganze mit ein wenig Wasser zusammen, bis man eine Masse erhält, die halb feucht und halb trocken ist. Diese vergräbt man drei bis vier Fuß tief unter der Erde. Nach sechs oder sieben Stunden wird sich der vorhergesagte Effekt einstellen: Die Erde erzittert, sie bricht auf, und Feuer und Qualm treten aus.” Seither konnte man beobachten, wie in den Parks der adligen Landbesitzer die Erde erbebte, wie sie sich wölbte, wie sie qualmte. Von Plattentektonik war da noch lange nicht die Rede.
Für die Theorie, dass Erdbeben durch unterirdische Explosionen ausgelöst werden, hatten sich auch antike Autoren ausgesprochen. So hatten Anaximenes und Aristoteles behauptet, Erdbeben entstünden, wenn große unterirdische Höhlen zusammenbrachen – als Einsturzursache galten freilich Winde oder Feuer, keine Explosionen. Plinius dagegen stellte sich Erdbeben als unterirdische Gewitter vor. Dies kam der Schießpulvertheorie schon sehr nahe. Denn man glaubte, dass Blitz und Donner entstünden, wenn sich schweflige Dämpfe in der Luft entzündeten. Das Gewitter als elektrisches Phänomen entdeckte Benjamin Franklin erst 1750. Und es dauerte noch mehrere Jahre, bis die Welt der Wissenschaft sich einheitlich Franklins Meinung anschloss.
Selbst die Bibel schien die Explosionstheorie zu bestätigen. So verwiesen Naturforscher auf Psalm 106: „Die Erde tat sich auf und verschlang Datan, und deckte zu die Rotte Abirams, und Feuer wurde unter ihrer Rotte angezündet, die Flamme verbrannte die Gottlosen” – unterirdische Explosionen sollten die Erde öffnen, und das Feuer die Sünder töten.
Alles schien dafür zu sprechen, dass Erdbeben tatsächlich von unterirdischem Schießpulver ausgelöst wurden. Doch es gab Kritiker. Einer von ihnen war jener William Stukeley, der in die Tiefe stieg, um die Erdbebentheorien zu überprüfen. Hier suchte er nach Beweisen für die unterirdische Vermengung der Schießpulverchemikalien, aber er fand keine.
Auch die eigentlichen Experten für den Untergrund, die Minenarbeiter, berichteten nichts darüber, führt Stukeley aus. „ Die Erde besteht im Allgemeinen aus solidem Fels, vielleicht mit kleinen Spalten. Diese Öffnungen genügen aber nicht, dass Dämpfe sich so unter der Erde ausbreiten können, um Erdbeben auszulösen. Außerdem gibt es keine Minen für Schwefel, Nitrat oder anderes entzündliche Material in England.”
Erdbeben könnten also nicht unterirdisch entstehen, schloss Stukeley. Die wahre Erdbebenursache sei die Elektrizität, argumentierte er. Erdbeben würden sich nur in heißen, trockenen Ländern – wie Italien – ereignen oder nach langen trockenen Wetterperioden. Dann sei die Erde elektrisch stark aufgeladen und es genüge, wenn sie von einem nichtelektrischen Körper berührt würde, „um den wunderbaren Effekt eines Erdbebens auszulösen” .
Diesen elektrisch nicht geladenen Körper hatte Stukeley in Benjamin Franklins Gewitter-Theorie ausgemacht. Franklin erklärte, dass Wolken, die über dem Meer entstünden, neutral seien, während Wolken, die sich über dem Land bildeten, elektrisch geladen wären. Der leise Knall, den man bei Elektrizitätsexperimenten hören könne, sei das gleiche Geräusch wie Donner, wenn sich elektrische Wolken an nichtelektrische Wolken entlüden. Wenn also eine nichtelektrische Wolke einen Berggipfel oder einen Kirchturm berührt, sollte sich die Spannung entladen und die Erde erbeben. Erdbeben entstünden demnach in der Luft. Man merke das zum Beispiel daran, so Stukeley, dass die oberen Stockwerke eines Hauses stärker schwanken würden als die unteren.
Einen weiteren Beleg für die Richtigkeit seiner Theorie sah der Naturgelehrte in den Krankheitssymptomen, die Menschen zeigten, nachdem sie ein Erdbeben erlebt hatten. Diese seien identisch mit jenen nach einer künstlichen Elektrifizierung: „ Kopfschmerzen, hysterische oder nervöse Störungen, Koliken. Einige Frauen hätten eine Fehlgeburt erlitten, andere seien sogar gestorben.”
Stukeley beschrieb auch ein Experiment, das beweisen sollte, dass diese lokalen Entladungen ganze Regionen erschüttern können: „Stelle 1000 Mann in einer Reihe auf; lass jeden mit seinem Nachbarn verbunden sein, indem sie ein Eisenkabel in der Hand halten: Bei einem elektrischen Schlag fallen sie alle gleichzeitig um, im selben Moment; das gibt uns eine sehr gute Idee, wie ein Erdbeben funktioniert.”
Als Stukeley diese Theorie entwickelte, war er seiner Zeit voraus. Zwar arbeitete der Turiner Professor Giovanni Battista Beccaria 1758 unabhängig von Stukeley auch an einer Theorie elektrischer Erdbeben. Aber erst nach Stukeleys Tod 1765 fand die Elektrizitätstheorie Verbreitung. 1767 entwickelte der Theologe und Naturforscher Joseph Priestley ein Experiment, das Stukeleys Theorie zu bestätigen schien. Bei Versuchen zur elektrischen Leitfähigkeit verschiedener Materialien – darunter einer Hammelhaxe, Glas und Eis – bemerkte Priestley, das deren Oberfläche erzitterte, wenn man Strom durchleitete. Dann stellte er kleine Holzstäbe auf eine Eisfläche und versetzte dieser einen elektrischen Schlag: Die Stäbe fielen um.
Als dann 1783 ein schweres Erdbeben Kalabrien erschütterte, war Stukeleys Theorie schon so bekannt, dass es zu einem erbosten Streit zwischen den „fuochisti” und den „elettricisti” kam, den Vertretern des Feuers und jenen der Elektrizität.
Ihre Vorstellungen dominierten im 18. Jahrhundert. Aber im 19. Jahrhundert wurden diese Theorien über Bord geworfen, wie der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt feststellte: „ Alles, was wir von den Erschütterungswellen und Schwingungen in festen Körpern wissen, zeigt das Unhaltbare älterer Theorien.” Erdbeben werden seither als mechanisch erklärbare Stoßwellen aufgefasst. ■
Matthias Georgi