Pflanzen mit Appetit auf Wasserflöhe: Forscher haben Einblicke in ein skurriles Räuber-Beute-Verhältnis gewonnen. Um sich gegen die hungrigen Utricularia-Pflanzen zu wehren, die ihnen mit Saugfallen nachstellen, passen sich Wasserflöhe offenbar raffiniert an: Wenn die kleinen Krebschen den Feind im Wasser „wittern“, entwickeln sie seitliche Dornen und schwimmen langsamer. Beides erschwert das Einsaugen in die Fallen der fleischfressenden Wasserpflanzen, erklären die Wissenschaftler.
Tiere fressen normalerweise Pflanzen – doch etwa 600 Gewächse haben den Spieß umgedreht. Sie machen Jagd auf Insekten und andere Beutetiere, um die Nährstoffknappheit in ihren Lebensräumen auszugleichen. Besonders bekannt sind die Venusfliegenfalle, der Sonnentau und die Kannenpflanzen, die mit ihren raffinierten Strategien Fliege, Käfer und Co erbeuten. Daneben gibt es allerdings auch eine Gruppe von fleischfressenden Pflanzen, die sich die Unterwasserwelt als Jagdgebiet erschlossen hat: Die Vertreter der Gattung Utricularia (Wasserschlauch) stellen in Seen und Tümpeln ihre Fallen auf. Es handelt sich dabei um blasenförmige Fangorgane, in denen sich Unterdruck bildet. Bei der kleinsten Berührung öffnet sich eine Klappe, wodurch Wasser in die Falle strömt und kleine Organismen mit sich reißt. Danach schließt sich die Tür wieder und die Beute wird von Verdauungsflüssigkeit aufgelöst.
Winzlinge mit grünen Feinden
Besonders abgesehen haben es die gefräßigen Pflanzen auf Wasserflöhe. Es handelt sich dabei um kleine Krebschen, die oft zahlreich durch stehende Gewässer wuseln. Sie bilden eine wichtige Grundlage der Nahrungsnetze, da sie vielen Organismen als Nahrung dienen. Die Winzlinge sind dabei aber keine ganz hilflosen Opfer: In gefährlichen Lebensräumen wappnen sie sich, wie frühere Studien bereits gezeigt haben. Wenn sie die Anwesenheit von tierischen Feinden anhand von bestimmten Substanzen im Wasser wahrnehmen, verstärken Wasserflöhe ihre Panzer und bilden Dornen aus. Die Wissenschaftler um Sebastian Kruppert von Ruhr-Universität Bochum wollten nun wissen, ob die Winzlinge auch bei Bedrohungen durch die fleischfressenden Wasserpflanzen Verteidigungsreaktionen zeigen.
Die Forscher suchten sich dazu zunächst Lebensräume, in denen Utricularia-Pflanzen und Wasserflöhe gemeinsam vorkommen. In Gewässern bei Gelsenkirchen wurden sie fündig: Dort macht Utricularia neglecta Jagd auf den Wasserfloh Ceriodaphnia dubia. Die Forscher besorgten sich Vertreter dieser beiden Kontrahenten und vermehrten sie anschließend im Labor. Wie sie erklären, sind Wasserflöhe parthenogenetisch: Sie erzeugen genetisch identische Nachkommen, also Klone von sich selbst. So entstand im Labor eine definierte Zuchtlinie für die Experimente. Zunächst kultivierten die Wissenschaftler die Wasserflöhe gemeinsam mit den Pflanzen, während sie dabei durch ein feines Gitter getrennt waren. So wurden die Krebschen nicht gefressen, es bestand aber die Möglichkeit, dass sie den Feind über chemische Botenstoffe im Wasser „wittern“ konnten.
Neu: Tierische Verteidigung gegen Pflanzen
Vergleiche mit Kontrollen zeigten dann: Wasserflöhe, die im gleichen Wasser wie die Pflanzen lebten, bildeten längere Fortsätze an ihrem Panzer aus und waren zudem schlanker. Außerdem stellten die Forscher fest, dass sie sich langsamer bewegten als die Vergleichstiere, die ohne Pflanzen aufwuchsen. Wie sie erklären, handelt es sich dabei offenbar um Verteidigungsstrategien: „Wir gehen davon aus, dass die Fortsätze die Wasserflöhe breiter machen als den Durchmesser der Saugfalleneingänge“, sagt Co-Autor Martin Horstmann von der Ruhr-University Bochum. „Die Fallen sind zwar unterschiedlich groß, aber zumindest von den kleineren Fallen können die Tiere dann nicht mehr gefressen werden.“ Auch die schlankere Form wirkt sich wahrscheinlich günstig aus: Der Wassersog beim Auslösen der Fallen kann leichter an den Tierchen vorbeiströmen. Hinzu kommen auch die langsameren – „vorsichtigeren“ – Schwimmbewegungen, die die Fallen wahrscheinlich seltener triggern, erklären die Forscher.
Der Effekt der Anpassungen zeichnete sich jedenfalls deutlich ab. Das Team verglich, wie häufig die verschiedenen Wasserflöhe gefressen wurden. Tatsächlich wurden diejenigen, die mit den Pflanzen kokultiviert worden waren, anschließend seltener von ihnen erbeutet. „Das weist darauf hin, dass die Anpassungen tatsächlich Verteidigungen gegen die Pflanzen darstellen,“ sagt Kruppert. Offenbar sind sie für die Tiere leicht nachteilig und werden deshalb nur hervorgebracht, wenn es sich lohnt. „Denn die sonst genetisch identischen Tiere aktivieren diese Verteidigungsmechanismen nur, wenn sie diese brauchen, weil sie mit den Pflanzen aufwachsen,“ so Kruppert.
Abschließend hebt Seniorautor Ralph Tollrian von der Ruhr-Universität Bochum die Besonderheit der Entdeckung hervor: „Uns war zuvor kein anderer Fall bekannt, in dem sich Tiere gegen Angriffe von Pflanzen verteidigen. Dass dann auch noch verschiedene Verteidigungen wie Verhaltensanpassungen und Veränderungen im Körperbau zugleich zu beobachten sind, zeigt, wie wandlungsfähig und faszinierend die so unscheinbar wirkenden Wasserflöhe sind“, so der Wissenschaftler.
Quelle: Ruhr-University Bochum, Fachartikel: International Journal of Molecular Sciences, doi: 10.3390/ijms23126474
Video: Das Video zeigt, wie eine Saugfalle von Utricularia kleine Wassertiere einfängt. © Ruhr-Universität Bochum