Die Blumenkohlsorte Romanesco weist eine außergewöhnliche Form auf: Sie ist aus zahlreichen kleinen Pyramiden aufgebaut, die wiederum selbst aus Pyramiden bestehen. Wie es dazu kommt, haben Forscher nun mithilfe einer Kombination aus Pflanzenbiologie und mathematischer Modellierung herausgefunden. Demnach ist die Genregulation bei der Entwicklung der Blüten so gestört, dass die Knospen nicht zu Blüten werden, sondern zu Stängeln, die weitere Blütenansätze bilden, die wiederum zu Stängeln werden. Auf diese Weise entsteht eine fraktale Struktur, bei der jeder Bestandteil aus kleinen Wiederholungen seiner selbst zusammengesetzt ist.
Die Natur ist reich an geometrischen Formen. Die Windungen von Schneckenhäusern entsprechen der Fibonacci-Folge, bei der jede Zahl der Summe ihrer beiden Vorgänger entspricht. Schneekristalle bestehen aus winzigen Verzweigungen, die sich in verschiedenen Dimensionen wiederholen und somit Fraktale formen. Auch viele Blüten sind nach ähnlichen Mustern aufgebaut und formen Fibonacci-Spiralen oder Fraktale.
Stängel statt Blüten
Eine besonders auffällige geometrische Struktur zeigt sich beim Romanesco-Blumenkohl: Seine Bestandteile bilden zugleich Fraktale und Fibonacci-Spiralen. Ein Team um Eugenio Azpeitia von der Universität Lyon in Frankreich hat nun analysiert, wie diese Form zustande kommt. „Die Blumenkohlröschen sind der Blütenstand der Pflanze“, erklären die Forscher. „Die sich wiederholende, selbstähnliche Struktur entsteht, weil die Blütenvorläufer nicht zur Blüte heranwachsen, sondern stattdessen weitere Blütenstände erzeugen.“ Dieses Phänomen zeigt sich sowohl bei klassischem Blumenkohl als auch bei der Romanesco-Variante. Welche molekularen und genetischen Prozesse dem allerdings zugrunde liegen, war bislang unklar.
Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, haben Azpeitia und seine Kollegen verschiedene Experimente, Analysen und Berechnungen durchgeführt: An klassischem Blumenkohl und Romanesco untersuchten sie, welche Gene bei der Entwicklung der Röschen aktiv sind und wie sie sich gegenseitig beeinflussen. In Computersimulationen stellten sie die Prozesse nach und variierten einzelne Faktoren, um herauszufinden, wie sich dadurch das Resultat ändert. Um die Rolle der beteiligten Gene weiter zu erforschen, veränderten sie außerdem die Modellpflanze Ackerschmalwand so, dass sie ebenfalls blumenkohlartige Strukturen bildete.
Regulationsnetze aus dem Gleichgewicht
Das Ergebnis: Wenn sich eine Blüte normal entwickelt, ist ein genau abgestimmtes Netzwerk von Genen aktiv, die sich gegenseitig zum jeweils passenden Zeitpunkt aktivieren, hemmen oder verstärken. Auf diese Weise sorgen sie dafür, dass sich aus einem undifferenzierten Vorläufergewebe zunächst Knospen und dann Blüten entwickeln. Bei Blumenkohl dagegen ist dieses Netzwerk aus dem Takt geraten. Dadurch werden Gene, die eigentlich für die Entstehung der Blüte verantwortlich sind, herunterreguliert, während ein anderes Gen, das den Blühprozess stoppt, verstärkt aktiviert wird.
Das führt dazu, dass das Vorläufergewebe zwar im genetischen „Gedächtnis“ hat, dass es zu Blüten werden soll, sich aber stattdessen zu immer weiteren Stängeln entwickelt, die erneut Blütenvorläufer hervorbringen, die wiederum zu Stängeln werden. Dieser Prozess läuft sowohl bei klassischem Blumenkohl als auch bei Romanesco ab und ließ sich auch in der Ackerschmalwand rekonstruieren, wenn die Forscher die entsprechenden Gene beeinflussten.
Produkt der Domestikation
Warum aber bildet klassischer Blumenkohl breite Röschen, während Romanesco spitz zulaufende, pyramidenförmige Strukturen ausbildet? Im Computermodell zeigten die Forscher: Beim Romanesco bilden die neuen Stängel nach immer kürzerer Zeit neue Blütenstände aus, die zu Stängeln werden. Dadurch sind die neuen Strukturen jeweils kleiner als ihre Vorläufer. Bei klassischem Blumenkohl dagegen ist die Reproduktionsrate konstant.
„Die konischen Formen, die bei Romanesco-Spiralen in allen Maßstäben auftreten, stellen eine zusätzliche geometrische Variation dar, die durch die Domestikation erreicht wurde“, schreiben die Forscher. „Diese Ergebnisse zeigen, wie fraktale Muster durch Wachstums- und Entwicklungsnetzwerke erzeugt werden können, die die Dynamik der Pflanzengewebe verändern.“
Quelle: Eugenio Azpeitia (Universität Lyon, Frankreich) et al., Science, doi: 10.1126/science.abg5999