Den umgekehrten Zusammenhang zwischen Kreativität und der Neigung zum Flunkern haben frühere Untersuchungen von Francesca Gino von der Harvard Business School und ihren Kollegen bereits belegt: Kreatives Denken erzeugt einen Hang zum Schummeln. Bei ihrer aktuellen Untersuchung wollten sie nun herausfinden, ob auch der umgedrehte Effekt vorliegt: Macht Lügen kreativ?
Um dieser Frage nachzugehen, führten die Forscher mit einer Gruppe Probanden zuerst Experimente durch, die darauf abzielten, unehrliches Verhalten auszulösen. Die Teilnehmer sollten eine Reihe einfacher mathematischer Aufgaben lösen. Je nachdem, wie viele sie geschafft hatten, bekamen sie Geldpreise. Über den erreichten Erfolg sollten sie selbst Auskunft geben – der ganze Versuchsaufbau suggerierte, dass die Wissenschaftler nicht wussten, was die tatsächliche Leistung eines jeweiligen Probanden war. Das eröffnete den Probanden die Möglichkeit zum risikofreien Flunkern – aber nur scheinbar, denn die Forscher erfuhren heimlich sehr wohl, was die tatsächliche Leistung war. Von der scheinbaren Gelegenheit des risikolosen Flunkerns machten 59 Prozent der Probanden Gebrauch, berichten die Wissenschaftler.
Im nachfolgenden Experiment sollten die Teilnehmer dann ihre Kreativität unter Beweis stellen. Über den Zusammenhang mit dem vorhergehenden Versuch wussten sie natürlich nichts. Zur Bewertung ihres kreativen Denkens nutzten die Forscher eine Methode, die bereits seit einiger Zeit standardmäßig zu diesem Zweck eingesetzt wird. Es handelt sich um einen sprachlichen Assoziationstest. Die Probanden sollten beispielsweise drei Wörtern ein viertes zuordnen, das mit jedem von ihnen eine sinnvolle Phrase ergibt. Beispiel: Buffet, Schulter und Schweiß – passendes Wort: kalt.
Von Regeln befreites Denken
Der Vergleich der Ergebnisse dieses Testes mit den Resultaten des Flunker- Versuchs belegte: Diejenigen, die ihre Ergebnisse gezielt übertrieben hatten, zeigten eine höhere Fähigkeit zum kreativen Denken als ihre braven Versuchs-Kollegen. Weitere Experimente der Forscher nach ähnlichem Prinzip kamen stets zu dem gleichen Ergebnis. Dabei wurde auch deutlich, dass nicht die Grundveranlagung zum Schwindeln, sondern das unehrliche Verhalten selbst der Auslöser für die erhöhte Kreativität war.
Den Forschern zufolge ist liegt Ursache darin, dass sich Menschen durch Lügen offenbar generell von geistigen Regeln und Denkgrenzen befreien. Im Englischen gibt es im Zusammenhang mit Kreativität eine bildhafte Redewendung „out-of-the-box thinking” (Außerhalb der Kiste denken). Diese geistige Grundstimmung wird offenbar durch Flunkern erhöht, legen die Ergebnisse von Francesca Gino und ihren Kollegen nahe. „Sowohl Unehrlichkeit als auch Kreativität haben eben etwas mit dem Durchbrechen von Regeln zu tun”, so die Wissenschaftlerin. Die Forscher wollen nun am Ball bleiben: In einer aktuellen Studie untersuchen sie gerade, wie Menschen auf das Schummeln anderer reagieren. Ihre vorläufigen Ergebnisse legen nahe, dass besonders kreative Schwindler sogar Wohlwollen ernten können.