Der Klimawandel lässt das arktische Meereis zunehmend schwinden. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt nun, welche drastischen Folgen das für die dortigen Ökosysteme haben kann: Beim Übergang von saisonal vereisten zu eisfreien Bedingungen kann sich die komplette Lebensgemeinschaft verändern, wie die Analyse von alter DNA aus dem arktischen Meeresgrund bestätigt. Das könnte erhebliche Konsequenzen für die Fischerei und das globale Klima haben, warnen Wissenschaftler.
Noch sind die Meere der Polargebiete in jedem Winter für Wochen oder Monate mit einem gefrorenen Panzer aus Meereis überzogen. Doch durch den Klimawandel verändert sich dies: Das Meereis vor allem in der Arktis wird dünner und seine Fläche schrumpft. „Welche langfristigen Folgen die geringe sommerliche Meereisbedeckung für die Meeresbewohner hat, ließ sich bisher nur schwer einschätzen, weil entsprechende Langzeituntersuchungen fehlten“, erklärt Ulrike Herzschuh, Leiterin der Forschungsgruppe Polare Terrestrische Umweltsysteme am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Potsdam.
Meeressediment als Archiv
Deshalb haben nun Herzschuh und ihr Team einen Blick rund 20.000 Jahre zurück bis in die letzte Eiszeit geworfen. Auch damals gab es eine starke Erwärmung des Klimas und die zuvor dicken Eispanzer auf dem Land und den Ozeanen zogen sich zurück und schrumpften. Dadurch veränderte sich die Ausdehnung und Verteilung des Meereises und damit verbunden auch die Bedingungen im darunterliegenden Meer. Auskunft über die Veränderungen liefern Ablagerungen, die sich damals im Laufe der Jahrtausende am Grund des Meeres angesammelt haben. „Diese Sedimente sind ein natürliches Archiv der Klimageschichte“, sagt Herzschuh.
Wer das Material mit einem Bohrer an die Oberfläche holt, kann in den unterschiedlich alten Schichten die Spuren längst verstorbener Meeresbewohner in Form ihres Erbguts finden. Um herauszufinden, welche Organismen während des Übergangs von der Kaltzeit zur Warmzeit im Ozean lebten, haben Herzschuh und ihre Kollegen mithilfe der sogenannten Shotgun-Sequenzierung die DNA aus Sedimentproben verschiedener Bohrstellen rund 70 Kilometer vor der Küste von Kamtschatka in der Beringsee analysiert. Diese Region war auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit von saisonalem Meereis bedeckt, in den wärmeren Phasen davor und danach hingegen eisfrei.
Drastischer Wechsel der Artengemeinschaft
Die Analysen der Sedimente förderten die DNA von Meeresbewohnern aus 167 verschiedenen Familien zutage. „Wir waren selbst überrascht, dass in diesen alten Sedimenten Informationen über das komplette Ökosystem stecken“, sagt Herzschuh. Typisch für die kälteren Phasen der letzten Eiszeit waren demnach Diatomeen und andere Algen, die in oder unter dem Meereis leben. Diese winzigen Sauerstoffproduzenten waren eine beliebte Nahrungsquelle für Ruderfußkrebse, die ihrerseits von Fischen aus der Familie der Dorsche wie dem Pazifischen Kabeljau, dem Alaska-Seelachs und dem Polardorsch gefressen wurden.
In den wärmeren Epochen ohne Eis gab es dagegen deutlich weniger Diatomeen und Ruderfußkrebse, dafür aber umso mehr Cyanobakterien. Am Meeresgrund breiteten sich in geschützten Buchten Seegraswiesen aus und statt der Dorsche schwammen in der Beringsee mehr Lachse und Pazifische Heringe. „Wir können damit nun zum ersten Mal zeigen, wie sich mit dem Rückgang des Meereises das komplette Ökosystem umbaut“, resümiert Herzschuh. „Das fängt bei den Algen an und geht bis zu den Fischen und Walen.“
Vorschau auf die Zukunft
Ähnlich tiefgreifende Veränderungen erwartet das Team auch für die uns heute bevorstehende wärmere und weitgehend eisfreie Zukunft. Diese könnte massive ökologische Auswirkungen mit sich bringen. “Der Blick in die Vergangenheit zeigt uns, dass wir für die arktischen Regionen mit substanziellen Verschiebungen in der Artenzusammensetzung im offenen Wasser und am Meeresgrund rechnen müssen”, erklären die Forschenden. Das hätte auch Auswirkungen auf die Produktivität des Ozeans und im Besonderen die Fischerei. So wird sich der Fang einiger beliebter Speisefische wie Seelachs und Kabeljau in der Beringsee und anderen Teilen des arktischen Meeres wahrscheinlich nicht mehr lohnen. Dafür könnten der Buckellachs und der Pazifische Hering weiter nach Norden vordringen.
Dazu kommt, dass die Planktongesellschaften unter eisfreien Bedingungen weniger Kohlenstoff in die Tiefe transportieren und in den Sedimenten deponieren. Möglicherweise können die Meere dann nicht mehr so viel Kohlendioxid speichern, was den Klimawandel weiter anheizen würde. Das Verschwinden des Meereises könnte also auch dazu führen, dass diese Ökosysteme wichtige Dienstleistungen nicht mehr in gewohntem Umfang bereitstellen können.
Quelle: Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung; Fachartikel: Nature Communications, doi: 10.1038/s41467-023-36845-x