„In unserer Studie beschäftigten wir uns mit der Frage, warum wir glauben, die Welt scharf zu sehen”, bringt Arvid Herwig von der Universität Bielefeld die Forschungsarbeiten auf den Punkt. Er und seine Kollegen haben die Grundlagen des Wahrnehmungsphänomens durch eine Reihe von Experimenten erkundet. Sie gingen dabei dem Verdacht nach, dass der Eindruck von Sehschärfe über die zentrale Stelle der Netzhaut – der Fovea – hinaus, auf Hirnfunktionen beruht, die mit Erfahrungen zu tun haben.
Die Forscher nutzten bei ihren Versuchen mit freiwilligen Studienteilnehmern das sogenannte Eyetracking-Verfahren. Damit lassen sich menschliche Blickbewegungen mit Hilfe einer speziellen Kamera präzise erfassen. Im Experiment zeigten die Forscher den Probanden Bilder, die diese durch Augenbewegungen nach und nach scharf erfassen konnten. Währenddessen jedoch veränderten sie unbemerkt einige Details. Das Ziel war dabei, den Teilnehmern bislang unbekannte neue Verknüpfungen von außerfovealen und fovealen, also von unscharfen und scharfen Seheindrücken beizubringen. Anschließend wurden die Personen gebeten, Objekte außerhalb des Fokus genauer zu beschreiben. Das Ergebnis: Die Verknüpfung eines unscharfen Seheindrucks mit einem scharfen Seheindruck kam bereits nach wenigen Minuten zustande. Der unscharfe Seheindruck wurde den neu erlernten scharfen Seheindrücken also ähnlicher.
Bereits im Augenwinkel scheinbar scharf
Den Forschern zufolge legt das Ergebnis nahe: Menschen lernen im Laufe ihres Lebens durch unzählige Blickbewegungen, den unscharfen Seheindruck von Objekten außerhalb der Fovea mit dem scharfen Seheindruck nach der gezielten Blickbewegung zum Objekt zu verknüpfen. So wird beispielsweise der unscharfe Seheindruck eines Fußballs außerhalb des Fokus mit dem scharfen Seheindruck nach der Blickbewegung zum Fußball hin verknüpft. Sieht ein Mensch anschließend im Augenwinkel unscharf einen Fußball, vergleicht sein Gehirn dieses aktuelle Bild mit gespeicherten Bildern von unscharfen Objekten. Findet das Gehirn ein passendes Bild, ersetzt es den unscharfen Eindruck durch ein präzises Bild aus dem Gedächtnis. Der unscharfe Seheindruck wird also ersetzt, bevor sich die Augen tatsächlich bewegen. Die Person glaubt somit, dass sie den Ball bereits genau erkennen kann, obwohl das noch nicht tatsächlich der Fall ist, erklären die Forscher.
„Die Experimente zeigen, dass unser Seheindruck wesentlich von gespeicherten Erfahrungen in unserem Gedächtnis abhängt”, resümiert Herwig. Den Forschern zufolge dienen diese Erfahrungen der Vorhersage zukünftiger Handlungseffekte – „wie würde die Welt nach einer weiteren Blickbewegung aussehen”. Mit anderen Worten: „Wir sehen nicht die aktuelle Welt, sondern unsere Vorhersagen”, so Herwig.