Der Meeres-Hundertfüßer Strigamia maritima galt in Deutschland fast 50 Jahre lang als verschollen – ob es diese Art an der deutschen Nordseeküste noch gibt, war unklar. Doch jetzt haben Zoologen das vielbeinige Tier an drei Stellen aufgespürt, unter anderem in Dagebüll an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste und auf Sylt. Die Funde bestätigen, dass diese Hundertfüßer bei uns noch vorkommen, aber extrem selten und bedroht sind.
Der im Meerwasser lebende Hundertfüßer Strigamia maritima ist eigentlich wohlbekannt: Der bis zu fünf Zentimeter lange Myriapode kommt an fast der gesamten Atlantikküste Europas von Spanien bis nach Norwegen vor. Er ist vor allem in der Gezeitenzone zu finden und bevorzugt dort steinige oder geröllige Bereiche. Reine Sand- oder Schlammböden meidet der mit 40 bis 50 Beinpaaren ausgestattete Hundertfüßer dagegen. Strigamia maritima war zudem der erste Myriapode, von dem die DNA-Sequenz analysiert worden ist.
Vor 50 Jahren zuletzt gesichtet
“Gerade angesichts seiner weiten Verbreitung ist es überraschend, dass Strigamia maritima in Deutschland bislang nur von der Insel Helgoland dokumentiert ist”, berichten Jan Philip Oeyen vom Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn und seine Kollegen. Und selbst der Fund auf Helgoland ist aus dem Jahr 1967 und liegt damit schon mehr als 50 Jahre zurück. Seither galt diese Tierart in Deutschland als verschollen. Weil jedoch das deutsche Rote-Liste-Zentrum eine neue Liste der bedrohten Hundertfüßer vorbereitet, schickte sie in diesem Sommer eine Experten auf die Suche nach dem verlorenen Meeres-Hundertfüßer.
Der Bodentier-Experte Hans Reip vom Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz untersuchte 35 Stellen an der Nordseeküste in Schleswig-Holstein – auf Sylt, Föhr, Amrum, Nordstrand, Pellworm sowie am nordfriesischen Festland. Im Rahmen seiner Untersuchungen sammelte Reip rund 500 Exemplare verschiedenster Hundertfüßer und wurde auch in Bezug auf Strigamia maritima fündig: Er entdeckte das seltene Tier zweimal am Strand von Dagebüll und einmal unter Steinen und Bauschutt neben dem Pier von Rantum auf der Insel Sylt. Zusammen mit einem Fund von Oyen und seinem Team im Jahr 2019 auf Sylt sind dies die ersten Nachweise dieses Hundertfüßers nach 50 Jahren.
An drei Stellen fündig geworden
Oeyen und seine Kollegen vermuten, dass Strigamia maritima bei uns nur an so wenigen Standorten überhaupt vorkommt, weil der größte Teil der deutschen Nordseeküste von Sandstränden und Schlickflächen geprägt ist – Habitaten, die dieser Hundertfüßer eher meidet. Auch die aktuellen Wiederentdeckungen fanden sich alle in steinigeren Abschnitten der Küste. Auf Sylt haben vermutlich erst menschliche Eingriffe und Konstruktionen dem Tier das Geröll zur Verfügung gestellt, das es benötigt, mutmaßen die Forscher.
Dank der Neufunde wird der lange verschollene Meeres-Hundertfüßer demnächst als etablierte, wenn auch bei uns extrem seltene Art in die neue Rote Liste der Hundertfüßer aufgenommen. Im Zuge der vorbereitenden Arbeiten für eine solche Liste setzt das Rote-Liste-Zentrum neben der Erfassung von verfügbaren Daten und Monitoring-Ergebnissen auch auf die gezielte Nachsuche. Diese zielgerichteten Kartierungen werden vor allem dann vorgenommen, wenn bestimmte Arten entsprechend der aktuell gültigen Roten Liste als ausgestorben, verschollen, vom Aussterben bedroht, extrem selten oder stark gefährdet gelten.
Ein kleiner Junge als Suchhelfer
Die Hundertfüßer-Fahndung illustrierte aber noch etwas: Die Fähigkeit, seltene oder sogar verschollene Arten aufzuspüren, hängt keineswegs von einer akademischen Ausbildung und jahrelanger Erfahrung ab. Denn beim ersten Fund des Meeres-Hundertfüßers auf Sylt erhielt Reip Hilfe von einem kleinen Jungen, der mit seinen Eltern unterwegs war. „Auf die Frage ‚Was machst Du denn da?‘ beschrieb ich ihnen die gesuchte Tierart an Hand eines Bildes per Smartphone und erklärte ihnen den Sinn und Zweck der Unternehmung”, schildert Reip. “Einer der Jungen erwies sich bei der Suche als Naturtalent und äußerst wertvoller ehrenamtlicher Mitarbeiter. Er fand nach kurzer Zeit nicht nur das erste Exemplar von Strigamia maritima, sondern in der folgenden halben Stunde mehrere ‚Nester‘ unter den Steinen auf dem feuchten Schlick.”
Für den Wissenschaftler ist dies ein schöner Beleg, dass die Fähigkeit, Arten aufzuspüren keineswegs von einer akademischen Ausbildung und jahrelanger Erfahrung abhängen muss: „Auch Anfänger und Laien können nach kurzer Anleitung äußerst wertvolle Informationen über die biologische Vielfalt sammeln“, sagt Reip.
Quelle: Rote-Liste-Zentrum; Fachartikel: Bulletin of the British Myriapod & Isopod Group (PDF)