Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Vorfahren heutiger Schlangen noch vier Beine hatten. Diese wurden dann in Anpassung an eine grabende Lebensweise nach und nach reduziert. Im Jahr 2015 glaubten Paläontologen, für dieses Szenario einen fossilen Beleg gefunden zu haben – eine urtümliche Schlange mit vier Beinen. Nun haben Forscher das angebliche Bindeglied zwischen Schlangen und Echsen erneut analysiert und kommen zu dem Ergebnis: Das fragliche Fossil ist keine Schlange, sondern ein Dolichosaurier, eine langgliedrige Meeresechse.
Für Schlangen bietet die Fortbewegung ohne Gliedmaßen offenbar evolutionäre Vorteile in ihren jeweiligen Lebensräumen. Sie schlängeln sich durch Wüsten und Regenwälder, bewohnen teils unterirdische Gänge, und viele Arten können sogar schwimmen und tauchen. Doch wann und wie haben sich ihre Gliedmaßen zurückgebildet? 2015 dachten die Forscher, diese Frage beantworten zu können. In Brasilien fanden sie in einer Gesteinsschicht aus der frühen Kreidezeit vor 110 Millionen Jahren ein Fossil, das sie „Tetrapodophis“ nannten – vierbeinige Schlange. Das knapp 20 Zentimeter lange Fossil war lang und schmal wie eine Schlange, hatte aber vier winzige Gliedmaßen. Es schien somit die evolutionäre Lücke zwischen Eidechsen und Schlangen zu schließen.
Doch keine Schlange
Ein Team um Michael Caldwell von der University of Alberta in Kanada hat Tetrapodophis nun erneut analysiert und kommt zu einem anderen Ergebnis: „Die wichtigste Schlussfolgerung unseres Teams ist, dass Tetrapodophis in Wirklichkeit keine Schlange ist und falsch klassifiziert wurde“, so Caldwell. „Vielmehr stimmen alle Aspekte seiner Anatomie mit der Anatomie einer Gruppe ausgestorbener Meeresechsen aus der Kreidezeit überein, die als Dolichosaurier bekannt sind.“ Die neue Studie deckt auf, dass zahlreiche Merkmale, aus denen die Forscher 2015 geschlossen hatten, es würde sich um eine Schlange handeln, falsch beschrieben und interpretiert wurden.
So gingen die Erstbeschreiber von Tetrapodophis davon aus, das Tier habe nicht im Wasser, sondern in Gängen unter der Erde gelebt, wo ein schmaler, langgestreckter Körperbau von Vorteil war. Zudem hatten sie vermutet, dass das Tier seinen Körper zur Fortbewegung zusammenziehen konnte und bei der Nahrungsaufnahme den Kiefer aushaken konnte, ebenso wie heutige Schlangen. Dem widersprechen die Erkenntnisse von Caldwell und seinen Kollegen: „Wir stellen fest, dass Tetrapodophis aquatische Anpassungen aufweist, und es gibt keine Belege für ein zusammenziehendes Verhalten oder die Fähigkeit, den Kiefer zur Nahrungsaufnahme auszuhaken“, so die Autoren. Auch zahlreiche andere anatomische Merkmale wie die Form von Zähnen, Schädel, Wirbeln und Rippen zeigen, dass es sich nicht um eine Schlange sondern um einen Dolichosaurier handelte.
Abdrücke auf beiden Hälften des Gesteins
Ein Grund für die abweichenden Ergebnisse ist, dass Caldwell und seine Kollegen das Fossil umfassender analysierten als die Entdecker: „Als das Gestein, in dem sich das Exemplar befand, gespalten wurde, landeten das Skelett und der Schädel auf den gegenüberliegenden Seiten der Platte, wobei die jeweils fehlenden Teile ihre Abdrücke auf der gegenüberliegenden Seite hinterließen“, erklärt Caldwell. „Die ursprüngliche Studie beschrieb nur den Schädel und beachtete nicht die Form der Abdrücke, in der mehrere Merkmale erhalten blieben, die deutlich machen, dass Tetrapodophis nicht den Schädel einer Schlange hatte – nicht einmal den einer primitiven Schlange.“
Damit bleibt das fehlende evolutionäre Glied zwischen Schlangen und Echsen weiterhin ein Rätsel. „Es ist seit langem bekannt, dass Schlangen zu einem Stamm vierbeiniger Wirbeltiere gehören, die im Laufe der Evolution ihre Gliedmaßen verloren haben. Irgendwo in der Fossilgeschichte der Schlangen muss es eine Vorläuferform geben, die noch vier Beine hatte“, so Caldwell. „Es gibt viele evolutionäre Fragen, die durch den Fund eines vierbeinigen Schlangenfossils beantwortet werden könnten, aber nur, wenn es sich um ein echtes Exemplar handelt.“
Rechtlich umstrittenes Exemplar
Eine Herausforderung bei der Untersuchung von Tetrapodophis war, überhaupt Zugang zu dem Exemplar zu bekommen. „Es gab keine entsprechenden Genehmigungen für den ursprünglichen Transport des Exemplars aus Brasilien, und seit der ursprünglichen Veröffentlichung wurde es in einer privaten Sammlung aufbewahrt, zu der Forscher nur begrenzt Zugang hatten. Diese Situation hat in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu heftigen Reaktionen geführt“, so sagt Co-Autor Tiago Simões von der Harvard University in Cambridge.
Die Autoren der aktuellen Studie konnten das Exemplar in Augenschein nehmen, als der Eigentümer es als Leihgabe einem deutschen privat geführten Museum zur Verfügung gestellt hatte. „In unserer Neubeschreibung von Tetrapodophis weisen wir auf den wichtigen rechtlichen Status des Exemplars hin und betonen die Notwendigkeit seiner Rückführung nach Brasilien, nicht nur in Übereinstimmung mit der brasilianischen Gesetzgebung, sondern auch mit internationalen Verträgen und den zunehmenden internationalen Bemühungen, die Auswirkungen kolonialistischer Praktiken in der Wissenschaft zu verringern“, so Simões.
Quelle: Michael Caldwell (Alberta University, Kanada) et al., Journal of Systematic Palaeontology, doi: 10.1080/14772019.2021.1983044