Gallese untersucht seit Anfang der 90er Jahre einen bestimmten Teil der Hirnrinde von Primaten, den prämotorischen Cortex, der für die Planung und Ausführung zielorientierter Bewegungen gebraucht wird. Zufällig beobachtete der Forscher, dass dieselben Neuronen bereits in Erregung gerieten, wenn der Versuchsleiter Gegenstände in die Hand nahm, mit denen eine Aufgabe verbunden war. Lagen diese Gegenstände unbewegt auf einem Tisch, blieben auch die Nervenzellen ruhig. Offensichtlich diente das motorische Zentrum nicht zur Objekterkennung, sondern es steuerte die Bewegungen und war darüber hinaus in der Lage, Ziele und Absichten einer fremden Handlung vorauszusehen und zu deuten. Weitere Experimente brachten die Bestätigung: Die Versuchstiere konnten die Absichten des Forschers erahnen.
Auch beim Menschen fanden Giacomo Rizzolatti, Scott Grafton und Marco Iacoboni in unabhängigen Untersuchungen zwei Hirnregionen, die bei der Beobachtung von Bewegungen aktiviert werden: die obere linke Schläfenfurche und darüber das motorische Sprachzentrum (Broca-Zentrum), das dem prämotorischen Cortex bei Primaten entspricht.
Rizzolatti und Michael Arbib sind davon überzeugt, dass aus der Fähigkeit der Primaten, Gedanken zu lesen und fremdes Handeln zu verstehen, auch die menschliche Sprachfertigkeit entstanden ist. Aus dem inneren Dialog zwischen einer beobachteten Bewegung und der Reaktion der Spiegelneuronen könnte das Bedürfnis entstanden sein, Handlungen und Gefühle durch Zeichen auszudrücken.
Die Forscher vermuten, dass Spiegelneuronen auch in anderen Hirnregionen anzutreffen sind und verschiedene Arten der Sinneswahrnehmung erklären können. Vilayanur Ramachandran von der San-Diego-Universität geht noch einen Schritt weiter: Er sieht in der höheren Entwicklung des Systems der Spiegelneuronen beim Menschen den wichtigsten Schlüssel für die Entstehung der menschlichen Kultur.
Hartmut Krech