Während sie nachts ruhend an einem Faden hängen, zeigen Springspinnen ein aus der Schlafforschung bekanntes Verhaltensmuster, haben Forscher festgestellt: Sie bewegen bestimmte Augenstrukturen und zucken währenddessen manchmal mit den Gliedmaßen. Bei uns und vielen Wirbeltieren ist dies für die auch Traumschlaf genannte REM-Phase typisch. Die Beobachtung wirft somit die Frage auf, ob Springspinnen sowie möglicherweise auch andere Gliederfüßer ebenfalls im Schlaf visuelle Träume erleben, sagen die Wissenschaftler.
Vom Menschen bis zum Wurm: Schlafähnliche Zustände sind im gesamten Tierreich verbreitet, haben Studien gezeigt. Bei einigen Arten wurden dabei auch Parallelen zu den von uns bekannten Phasen des Schlafs festgestellt. Neben dem Tiefschlaf durchlaufen wir während der Nacht auch die sogenannten REM-Schlafphasen. Benannt sind sie nach den charakteristisch schnellen Augenbewegungen (rapid eye movement). Der REM-Schlaf ist zudem von einer verringerten Schlaflähmung des Körpers geprägt – es kommt dadurch gelegentlich zu kleineren Bewegungen. In dieser Schlafphase träumen wir auch besonders ausgeprägt, was sich in Gehirnaktivitäten widerspiegelt, die dem Wachzustand ähneln. Es gibt zwar noch immer viele offene Fragen zur Bedeutung dieser Schlafphase, doch sie scheint bei Mensch und Tier mit Lernprozessen in Verbindung zu stehen.
Von einigen Wirbeltierarten ist bereits gut bekannt, dass ihr Schlaf ebenfalls eine REM-Phase umfasst und dass sie dabei offenbar träumen. Deshalb bewegen etwa Hund und Katze im Schlaf manchmal ihre Pfoten. Doch könnte es etwas Vergleichbares auch bei Insekten und Spinnentieren geben? Dieser Frage sind nun die Wissenschaftler um Daniela Rößler von der Universität Konstanz am Beispiel der Springspinnen-Art Evarcha arcuata nachgegangen. Wie sie berichten, haben ihre früheren Untersuchungen gezeigt, dass diese Tiere ein nächtliches Verhaltensmuster aufweisen, das unserem Schlaf entspricht: Sie lassen sich dabei kopfüber von einem Faden herabhängen und bleiben dabei oft lange völlig inaktiv. Die Forscher beobachteten allerdings auch, dass die Spinnen in bestimmten Phasen ihre Beine und weitere Körperstrukturen in einer stereotyp wirkenden Weise bewegen.
Schlafenden Spinnen in die Augen geschaut
So fragten sich Rößler und ihre Kollegen, ob dieses Muster vielleicht dem vom REM-Schlaf bekannten Verhalten entspricht. Um der Spur nachzugehen, haben sie nun untersucht, ob die Springspinnen auch das zweite für diese Phase typische Verhalten zeigen: Augenbewegungen. Wie die Wissenschaftler erklären, verändern Springspinnen ihre Blickrichtung zwar nicht über die Stellung der Augen, stattdessen können sie aber über Muskelbewegungen die Richtung ihrer Netzhautröhren einstellen. Im Rahmen ihrer Studie haben die Forscher diese Strukturen der Spinnenaugen nachts mittels Infrarotkameras genauer ins Visier genommen. Dafür nutzten sie junge Exemplare, die durch ihre noch nicht so stark ausgeprägte Pigmentierung leicht transparente Kopfstrukturen aufweisen.
So zeigte sich, dass die Spinnen im Verlauf der Nacht tatsächlich Phasen durchlaufen, in denen sich ihre Augenstrukturen ohne ersichtlichen Grund in einer stereotypen Weise bewegten. Die Dauer dieser Phasen nahm dabei im Verlauf der Nacht zu. Das Bewegungsmuster fiel auch mit dem zuvor schon festgestellten Einrollen und Zucken der Beine zusammen, berichten die Wissenschaftler. Interessanterweise zeigten die Spinnen die speziellen Bewegungen der Netzhautröhren aber nicht, wenn sie sich nachts putzten oder den Faden nachjustierten. Offenbar handelte es sich dabei um kurze Wachphasen im Rahmen der Nachtruhe, die sich von den beobachteten Zuständen unterscheiden, sagen die Wissenschaftler.
Haben die Winzlinge Traumbilder vor Augen?
„Die Kombination aus periodischen Gliederzuckungen und Augenbewegungen während des schlafähnlichen Zustands sowie die Zunahme der Dauer der Phasen entspricht den zentralen Verhaltenskriterien des REM-Schlafs bei Wirbeltieren, einschließlich des Menschen. Unsere Studie liefert somit deutliche Hinweise auf einen vergleichbaren Zustand bei einem wirbellosen Landtier – einem Gliederfüßer“, schreiben Rößler und ihre Kollegen. Dass es diese Parallele zwischen evolutionär so weit entfernten Entwicklungslinien des Tierreichs gibt, ist ihnen zufolge ein interessanter neuer Aspekt in der Schlafforschung.
Welche Bedeutung der REM-Schlaf-ähnliche Zustand für die Springspinnen genau hat, bleibt zwar unklar, doch vor dem Hintergrund der bekannten Funktionen steht nun eine interessante Möglichkeit im Raum: Vielleicht erleben auch die Springspinnen in den speziellen Schlafphasen visuelle Träume. Denn es gibt Hinweise darauf, dass die Augenbewegungsmuster während des REM-Schlafs in direktem Zusammenhang mit imaginären Szenen stehen. Den Forschern zufolge könnte es nun durch zukünftige Untersuchungen an den Springspinnen möglich sein, weitere Einblicke in die Funktion ihres geheimnisvollen Schlafverhaltens zu erhalten.
Quelle: Proceedings of the National Academy of Sciences, doi: 10.1073/pnas.2204754119