In jedem Jahr am 23. Mai – zum Geburtstag von Carl von Linné, dem Vater der Taxonomie – küren Forscher des International Institute for Species Exploration (IISE) aus den neuentdeckten Tier- und Pflanzenarten des letzten Jahres eine Liste der zehn ungewöhnlichsten, spannendsten und bedeutendsten Spezies. Diese Auswahl soll auf die Artenvielfalt und die Wunder der Natur aufmerksam machen und darauf hinweisen, dass heute Arten schneller aussterben als sie entdeckt werden können.
“Im letzten halben Jahrhundert mussten wir erkennen, dass Spezies in alarmierender Geschwindigkeit aussterben”, erklärt Quentin Wheeler, Direktor des IISE. “Es ist daher höchste Zeit, auch das Tempo der Erkundung neuer Arten zu erhöhen. Denn indem wir dies tun, sammeln wir Belege für unsere Ursprünge, entdecken Hinweise darauf, wie wir nachhaltiger leben können und was für eine großangelegte Erhaltung der Natur nötig ist.”
Riesenschildkröte, Flaschenbaum und Sonnentau
Unter den Top Ten dieses Jahres ist eine der Ikonen der Artenvielfalt: eine Riesenschildkröte von den Galapagos-Inseln. Erst im letzten Jahr entdeckten Biologen, dass einige der Tiere auf dem Ostteil der Santa Cruz-Insel eine eigene Art bilden. Nur 250 Tiere gehören zur neu identifizierten Spezies Chelonoidis donfaustoi, was diese urtümlichen Riesen noch seltener und einzigartiger macht.
Ebenfalls vor der Nase der Biologen versteckte sich jahrelang eine weitere neu entdeckte Art: Nur wenige Meter abseits der Hauptstraße in einem Nationalpark in Gabun steht der Flaschenbaum Sirdavidia solannona. Dieser entfernt mit den Magnolien verwandte, sechs Meter hohe Baum ähnelt in seinen Blüten verblüffend denen einiger Nachtschattengewächse, deren Samen durch vibrierende Bewegungen von Bienen verbreitet werden.
Der neuentdeckte Sonnentau Drosera magnifica (Foto: Paulo M. Gonella)
Nicht durch eine Expedition, sondern auf Facebook haben Biologen eine neue Art fleischfressender Pflanzen entdeckt: Ein Orchideensammler veröffentlichte Fotos dieser auf einem Berg in Brasilien entdeckte Pflanze im sozialen Netz, wodurch Botaniker aufmerksam wurden. Sie stellten fest: Es handelt sich um eine unbekannte Art des Sonnentaus. Drosera magnifica – der “prächtige Sonnentau”, gilt nun als der größte bisher bekannte Sonnentau er Neuen Welt. Das Gewächs kann eine Gesamtlänge von 1,50 Metern erreichen.
Roter Seedrache und ein skurriler Anglerfisch
Deutlich kleiner ist der nur 24 Millimeter große, vor der Küste Westaustraliens entdeckte Seedrache Phyllopteryx dewysea. Dennoch ist er eigentlich kaum zu übersehen, denn dieser Verwandte der Seepferdchen ist leuchtend rubinrot mit rosa Streifen und trägt Leuchtmarkierungen an seiner Schnauze. Weil er jedoch in etwas tieferem Wasser lebt als die beiden anderen bekannten Seedrachenarten, wurde er erst jetzt entdeckt.
In der Tiefsee lebt dagegen der im Golf von Mexiko neu entdeckte Anglerfisch Lasiognathus dinema. Der rund fünf Zentimeter lange Fisch wurde durch Zufall bei einer Studie zum Wasserzustand nach der Ölkatastrophe der Deepwater Horizon entdeckt. Ungewöhnlich an ihm ist die besonders lange Angel, die als Köder für Beute dient. Die Verdickung am Ende dieser Angel ähnelt einem kleinen Wassertier, doch wer danach schnappt, landet seinerseits im zahnbewehrten Maul des Anglerfisches.
Asseln als Baumeister
Skurril ist auch ein Fund, den Biologen in einer Höhle in Brasilien machten: Dort lebt die blinde, farblose Asselart Iuiuniscus iuiuensis, die große Begabung als Architekt zeigt: Die knapp einen Zentimeter kleinen Krebstiere errichten sich Schutzhöhlen aus Schlamm – ein Verhalten, das von keiner anderen Asselart bekannt ist. Die Höhlen sollen die Tiere nach ihrer Häutung vor Fressfeinden schützen, denn dann ist ihr Panzer noch weich und angreifbar.
Die Baumeister-Assel Iuiuniscus iuiuensis in ihrer Höhle (Foto: Souza, Ferreira & Senna)
Unter den Top Ten 2016 sind auch zwei neue Insektenarten. Eine ist die Kleinlibelle Umma gumma – stellvertretend für die rund 60 neuen Spezies dieser Gruppe allein im letzten Jahr. Die grünlich irisierende Libelle lebt in Feuchtgebieten von Gabun in Afrika und erhielt ihren Namen nach einem Song der Gruppe Pink Floyd. Durch seinen ungewöhnlichen Lebensraum glänzt dagegen der Käfer Phytotelmatrichis osopaddington: Der winzige Federflügler wurde in den Wasserpfützen entdeckt, die sich in den zusammengerollten Blättern einer tropischen Bromelie sammelten. Wovon sie sich ernähren, ist bisher unbekannt.
Frühmensch und Urzeit-Affe
In die Vergangenheit führen zwei weitere Entdeckungen unter den Top Ten des Jahres: Die erste ist der rätselhafte Homo naledi, ein Frühmensch, von dem 15 Skelette im September 2015 in einer Höhle in Südafrika entdeckt wurden. Weil er eine verblüffende Mischung moderner und primitiver Merkmale aufweist, ist seine Position im Menschenstammbaum noch immer unklar.
Überraschend ist auch der Fund einer bisher unbekannten Affenart in Spanien. Pliobates cataloniae lebte bis vor rund 11,6 Millionen Jahren und ist einer der engsten frühen Verwandten der heutigen Menschenaffen, Gibbons und Menschen. Mit einem Körpergewicht von vier bis fünf Kilogramm und einer Größe von rund 43 Zentimetern war das in einer Deponie in Katalonien entdeckte Fossil eher schmächtiger Statur, doch ihre Merkmale liefern wertvolle Informationen über die Vorfahren der Menschenaffen und Menschen.
Quelle: SUNY College of Environmental Science and Forestry