Ähnlich wie wir Menschen besitzen Tintenfische ein episodisches Gedächtnis, mit dem sie sich an Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit erinnern können. Doch auch ihnen kann es passieren, dass ihre Erinnerung sie trügt. Das zeigt eine Studie, bei der Forschende gezielt versucht haben, Tintenfischen falsche Erinnerungen darüber zu vermitteln, in welchem Behälter sich Futter befindet. Die Ergebnisse liefern neue Einblicke darin, wie das Gedächtnis der intelligenten Kopffüßer funktioniert.
Wenn wir uns an ein Ereignis aus unserem Leben erinnern, laufen in unserem Gehirn komplexe Prozesse ab. Denn unser Gehirn speichert das Erlebte nicht als eine einzige Erinnerung ab, sondern in Form zahlreicher Bruchstücke, die es jedes Mal, wenn wir an die Situation zurückdenken, aufs Neue zusammensetzt. Normalerweise funktioniert dieser Prozess recht zuverlässig. Doch gerade, wenn wir in kurzem zeitlichen Abstand eine ähnliche Situation erlebt haben, können wir Merkmale der beiden Erlebnisse durcheinanderbringen – es entstehen sogenannte falsche Erinnerungen. Diese sind ein typischer Hinweis auf die rekonstruktiven Prozesse, die beim Erinnern ablaufen.
Gedächtnistest für Tintenfische
Erstmals haben Forschende nun nachgewiesen, dass falsche Erinnerungen auch bei Tintenfischen vorkommen. Ein Team um Lisa Poncet von der Universität Caen in Frankreich nutzte dazu einen Trick: „Um zu untersuchen, ob das episodische Gedächtnis der Tintenfische wie bei uns Menschen auf rekonstruktiven Prozessen beruht, haben wir ein Protokoll entwickelt, das die Bildung falscher Erinnerungen fördert“, erklären Poncet und ihre Kolleginnen. Dazu zeigten sie 15 Tintenfischen zunächst drei Behälter, die zur besseren Wiedererkennbarkeit mit unterschiedlichen Mustern gekennzeichnet waren. Ein Behälter enthielt Garnelen, die Lieblingsspeise der Tintenfische, ein weiterer Krabben, die die Tintenfische zwar fressen, aber weniger gern mögen, und ein dritter war leer.
Kurz danach schufen die Forschenden erneut eine ähnliche Situation, wobei allerdings nur das Muster der Dosen zu sehen war, nicht der Inhalt. In einem nicht-verwirrenden Kontroll-Szenario präsentierten sie den Garnelen-Behälter erneut, kombiniert mit Garnelenduft. Für zwei verwirrende Szenarien zeigten sie jeweils den Garnelen-Behälter und den leeren Behälter gemeinsam, einmal mit und einmal ohne Garnelenduft. „Ziel der irreführenden Bedingungen war es, eine Überschneidung im Gedächtnis zwischen dem Inhalt der Garnelen-Dose und der leeren Dose zu erzeugen, so dass die Tintenfische anschließend dachten, dass sich in der leeren Dose Garnelen befänden“, erklären die Forscherinnen.
Überlagerte Erinnerungen
Eine Stunde nach dieser Exposition stellten Poncet und ihre Kolleginnen das Gedächtnis der Tintenfische auf die Probe. Anders als zuvor bekamen die Tintenfische diesmal freien Zugang zu den Behältern, zur Wahl standen allerdings nur der leere Behälter und der mit den weniger beliebten Krabben. Die Idee dahinter: Wenn sich die Tintenfische korrekt an den Inhalt erinnern, würden sie den Krabben-Behälter gegenüber gar keinem Futter vorziehen. Im Falle falscher Erinnerungen hingegen könnten sie glauben, in der leeren Dose wären Garnelen, woraufhin sie diese wählen würden.
Und tatsächlich: In dem nicht irreführenden Szenario wählten zwölf der 15 Tintenfische wie erwartet den Krabbenbehälter. Hatten sie dagegen zuvor den Garnelen-Behälter und den leeren Behälter ohne Geruch zusammen gesehen, entschieden sie sich in der Hälfte der Fälle für den leeren Behälter – ein Hinweis auf eine falsche Erinnerung. Beim irreführenden Szenario mit Geruch waren die Ergebnisse uneindeutig: Zehn von 15 Tieren wählten den Krabbenbehälter, vier den leeren und eines schaute sich zwar beide Behälter an, traf aber innerhalb von zehn Minuten keine Entscheidung.
Individuelle Unterschiede
„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Tintenfische zwar falsche Erinnerungen für visuelle Eindrücke bilden, nicht aber für Gerüche“, erklären Poncet und ihre Kolleginnen. „Diese Gedächtnisfehler könnten der erste Hinweis auf das Vorhandensein von rekonstruktiven Prozessen im Gedächtnis von Kopffüßern sein.“ Eine Einschränkung der Studie ist, dass die individuellen Tintenfische nicht mehrfach unter den verschiedenen Bedingungen getestet werden konnten. „Mehrere Wiederholungen hätten die späteren Entscheidungen der Tiere beeinflusst“, so das Team. Daher bleibt unklar, ob es sich bei einer Entscheidung für die leere Dose um ein einmaliges Versehen handelte oder um einen systematischen Fehler.
Die Ergebnisse deuten nach Ansicht des Teams aber darauf hin, dass manche Individuen anfälliger für falsche Erinnerungen sind als andere. „Einige schienen nicht betroffen zu sein, wenn sie einem irreführenden Ereignis ausgesetzt waren, während andere falsche Erinnerungen bildeten“, sagt Poncets Kollegin Christelle Jozet-Alves. „Dieses Phänomen findet sich auch bei uns Menschen.“
Quelle: Lisa Poncet (Normandie University, Caen, Frankreich) et al., iScience, doi: 10.1016/j.isci.2024.110322