Haben manche Tiere tatsächlich eine Art sechsten Sinn für die Anzeichen von Beben? Eine Studie belegt nun anhand von Bewegungsprofilen von Kühen, Schafen und Hunden, dass diese Tiere tatsächlich Stunden vor einem Erdstoß auffallend unruhig werden. Möglicherweise eignet sich die tierische Sensibilität sogar zur Entwicklung von Frühwarnsystemen, sagen die Wissenschaftler.
Alles schaukelt, Gebäude brechen ein oder riesige Tsunamis türmen sich auf und überfluten die Küstenregionen. Sich auf Erdbeben vorbereiten zu können, würde Leben retten und Schäden einschränken – doch leider können Geologen Erdbeben noch immer nicht verlässlich vorhersagen. Es gibt aber „Experten“, die das können, heißt es: Augenzeugen haben immer wieder von Tieren berichtet, die auffällig unruhig wurden oder unmittelbar vor starken Beben ihre Schlaf- und Nistplätze verlassen haben. Wissenschaftlich lässt sich dies aber meist schwer nachweisen, denn oft ist die Definition von auffälligem Verhalten fraglich und andere Faktoren könnten die Beobachtungen erklären.
Bewegungssensoren zeichnen Tierverhalten auf
Um tierische Aktivitätsmuster vor Beben systematisch zu erfassen, haben die Wissenschaftler um Martin Wikelski vom Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Radolfzell nun systematisch das Tierverhalten auf einem Bauernhof in einer stark von Erdbeben heimgesuchten Region in Norditalien untersucht. Sechs Kühe, fünf Schafe und zwei Hunde, die sich bereits früher vor Erdbeben auffällig verhalten haben sollen, statteten sie dazu mit Beschleunigungssensoren am Halsband aus. Die Forschenden zeichneten mit diesen Geräten die Bewegungsaktivität der Tiere über mehrere Monate hinweg auf.
Während dieser Zeit meldeten die Behörden zahlreiche Erdstöße in der Region. Neben vielen kleinen waren darunter auch zwölf Beben mit einer Stärke von vier oder höher auf der Richterskala, die deutliche Bodenbewegungen am Bauernhof auslösten. Darunter waren starke Beben mit Epizentren in bis zu 28 Kilometern Entfernung sowie schwächere, die sich aber sehr nah am Hof ereigneten und dadurch deutlich spürbar waren.
Die Auswertungen der Daten ergaben: Bis zu 20 Stunden vor einem Beben kam es zu auffälligen Verhaltensmustern bei den Tieren. „Je näher dabei das Epizentrum der bevorstehenden Erschütterung lag, desto früher änderten sie ihr Verhalten. Das ist genau das, was man erwarten würde, wenn physikalische Veränderungen vermehrt am Epizentrum des drohenden Erdbebens auftreten und mit zunehmender Entfernung schwächer werden“, erklärt Wikelski. Dieser Effekt zeichnete sich allerdings nur deutlich ab, wenn die Forscher alle Tiere gemeinsam betrachteten. „Im Kollektiv scheinen die Tiere also Fähigkeiten zu zeigen, die auf individueller Ebene nicht so leicht zu erkennen sind“, so Wikelski.
Potenzial für ein tierisches Frühwarnsystem
Über die biologische Grundlage der Fähigkeit zur Vorhersage von bevorstehenden Erdbeben, können die Forscher allerdings auch weiterhin nur Vermutungen anstellen. Es erscheint denkbar, dass die Tiere mit ihrem Fell die Ionisierung der Luft wahrnehmen können, die bei großem Gesteinsdruck vor Erdbeben auftreten kann. Möglich wäre zudem, dass Tiere Gase riechen, die vor einem Beben vermehrt aus Quarzkristallen freigesetzt werden, sagen die Wissenschaftler.
Die Forscher konnten sogar bereits konkret zeigen, dass sich die Überwachung des Tierverhaltens auch zur Vorhersage von Erdbeben eignen könnte. Seit Dezember 2019 schickt nun ein Chip am Halsband der Tiere des Bauernhofes alle drei Minuten Informationen an einen zentralen Computer. Wenn er über mindestens 45 Minuten eine deutlich erhöhte Aktivität der Tiere feststellt, wird Alarm ausgelöst. Einmal ist das bereits passiert, berichten die Forscher. „Und tatsächlich, drei Stunden später erschütterte ein kleines Beben die Region, dessen Epizentrum direkt unter dem Stall der Tiere lag“, berichtet Wikelski.
Um das Verfahren in ein systematisches Erdbeben-Frühwarnsystem zu verwandeln, wollen die Forscher nun mehr Tiere über längere Zeiträume in verschiedenen Erdbebenzonen der Welt beobachten. Sogar vom All aus wollen sie Bewegungen von mit Sendern ausgerüsteten Tieren erfassen. Dazu soll das globale Beobachtungssystem Icarus auf der Internationalen Raumstation ISS zum Einsatz kommen.
Quelle: Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie, Fachartikel: Ethology, doi: 10.1111/eth.13078