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Signale aus der Stille

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Signale aus der Stille
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Wiedererwachen des Gehirns nach tiefen Koma? (thinkstock)
Zeigt das EEG eines Menschen im Koma über längere Zeit keinerlei Ausschläge mehr, so ist das ein Anzeichen dafür, dass der Hirntod eingetreten ist. Nun jedoch haben Forscher bei einem Patienten im tiefsten Koma erstmals jenseits der Nulllinie wieder Hirnaktivität beobachtet. Sie verzeichneten bisher unbekannte Wellen elektrischer Aktivität, die vom Hippocampus zum Cortex liefen. Ihre Erkenntnisse wollen die Wissenschaftler nutzen, um Menschen im künstlichen Koma besser behandeln zu können. An den Kriterien für die Diagnose Hirntod wagen sie jedoch noch nicht zu rütteln.

Die meisten Menschen sterben, weil ihr Herz stillsteht und ihre Organe nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden. Doch auch schwere Hirnschäden durch Verletzungen, Sauerstoffmangel oder Unterkühlung können zum Tod führen, obwohl andere Organe weiterhin ihre Arbeit tun. Da die betroffenen Patienten meist bereits im Koma liegen, ist es nicht immer einfach festzustellen, ob tatsächlich der Hirntod eingetreten ist oder ob die Nervenzellen eventuell wieder aktiv werden könnten. Als eines der wichtigsten Kriterien für die Diagnose gilt die sogenannte Nulllinie im Elektroenzephalogramm (EEG). In der Klinik dürfen die Elektroden auf der Kopfhaut des Patienten über eine halbe Stunde hinweg keinerlei elektrische Aktivität messen, die durch Entladungen der Nervenzellen im Hirn verursacht wird. Danach, so die Annahme, ist eine Rückkehr ins Leben nicht mehr möglich.

Forscher der Université de Montreal in Kanada und des Medical Centre Regina Maria in Rumänien haben nun jedoch erstmals Hirnaktivitäten aufgezeichnet, die offenbar einem noch tieferen Koma entspringen als jenem, das bei einer Hirnstrommessung als Nulllinie auftaucht. Den behandelnden Ärzten in Rumänien fiel im EEG eines Komapatienten ein Wellenmuster auf, das sie noch nie zuvor gesehen hatten. Zum Zeitpunkt der Messung stand er unter dem Einfluss starker Medikamente, die seine epileptischen Anfälle unterdrückten und in dem Ruf stehen, das Koma zu vertiefen. Nachdem die Präparate abgesetzt wurden, erschien im EEG zuerst eine Nulllinie. Danach maßen die Elektroden ein sogenanntes Burst-Surpression-Muster, das normalerweise auftritt, bevor die Aktivität der Nervenzellen zum Erliegen kommt. Der Patient, so folgerten die Forscher, war aus einem bisher unbekannten Zustand tiefsten Komas in ein leichteres Koma zurückgekehrt.

Ihre Vermutung testeten sie in Versuchen mit Katzen, die sie mit Hilfe von Isofluran Schritt für Schritt in ein immer tieferes – wenngleich reversibles – Koma versetzten. War bei der Hirnstrommessung die Nulllinie erreicht, verabreichten sie den Tieren eine weitere Dosis des Narkosemittels. Tatsächlich zeigten alle Katzen daraufhin jene neue Form der Hirnwelle, die die Forscher aufgrund ihrer Form Nu-Complex tauften. „Wir haben nun Beweise dafür, dass das Gehirn ein extrem tiefes Koma überleben kann, wenn die Integrität der neuronalen Strukturen erhalten bleibt”, sagt Daniel Kroeger, Erstautor der Studie, die gerade in der Fachzeitschrift „PLOS ONE” erschienen ist.

Ein schonenderes künstliches Koma?

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Gerade das dürfte in der Praxis jedoch häufig nicht der Fall sein. „In vielen klinischen Situationen hört das Gehirn wahrscheinlich aufgrund von Schäden durch Sauerstoffmangel oder Vergiftungen, die die neuronale Integrität zerstören, auf zu funktionieren”, schreiben die Forscher. Mitautor Florin Amzica betont: „Jene, die entscheiden mussten oder müssen, ob bei einem nahen Verwandten die lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt werden, sollten sich nicht sorgen oder an ihren Ärzten zweifeln.” Die derzeitigen Kriterien für die Diagnose Hirntod seien extrem stringent. „Eines Tages könnten unsere Erkenntnisse vielleicht zu einer Neudefinition dieser Kriterien führen, aber davon sind wir noch sehr weit entfernt.”

Die gemessenen Hirnwellen sind zudem kein Zeichen von Bewusstsein. Sie entspringen aus der Entladungen von Zellen im Hippocampus, einer der ältesten Strukturen unseres Hirns. Ihre Aktivität lässt sich im EEG nicht erkennen, da die Elektroden auf der Kopfhaut vor allem die Hirnwellen im Cortex messen, der direkt unter der Schädeldecke liegt. Wie die Forscher herausfanden, entstehen im Hippocampus aus eigenem Antrieb elektrische Oszillationen, die ausgeprägter werden, je stärker das Koma die zuständigen Kontrollmechanismen lahmlegt. Nachdem die Nulllinie überschritten ist, treten die Entladungen in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen so koordiniert auf, dass sie sich durch das gesamte Gehirn fortpflanzen und schließlich mit einigen Millisekunden Verzögerung in der Steuerzentrale des Hirns, dem Cortex, ankommen.

Die Forscher erwägen nun, ob dieser Zustand vielleicht Patienten nützen könnte, die in ein künstliches Koma versetzt werden müssen. Der Vorteil sei, dass die Nervenzellen aktiv bleiben, erklärt Amzica. „Wenn ein Muskel oder ein Organ über längere Zeit nicht benutzt wird, führt das zu Gewebsschwund”, sagt er. „Es ist plausibel, dass das auch im Gehirn geschieht, wenn es über eine längere Zeit hinweg in einem Zustand gehalten wird, der der Nulllinie des EEG entspricht. Ein inaktives Hirn, das aus einem längeren Koma aufwacht, könnte in schlechterem Zustand sein als ein Hirn, das minimale Aktivität gezeigt hat.”

Quelle:

© wissenschaft.de – Nora Schlüter
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