Statt mit den Augen lesen Blinde normalerweise mit ihren Fingerkuppen: Die fühlbaren Strukturen der sogenannten Braille-Schrift machen dies möglich. US-Forschern ist es nun allerdings gelungen, die Informationen der Braille-Schrift für Blinde tatsächlich sichtbar zu machen: Durch ein System, das auf einem Netzhautimplantat beruht, verwandelten sie die Buchstaben in Reize, die ein Blinder über sein Sehzentrum als typische Muster der Braille-Schrift interpretieren konnte. Auf diese Weise entzifferte ein Franzose, dessen Blindheit auf die Erkrankung Retinopathia pigmentosa zurückgeht, Buchstaben und Wörter.
Für ihr Experiment nutzten die Wissenschaftler das System namens ?Argus II? des US-amerikanischen Herstellers Second Sight, das auf dem europäischen Markt bereits zugelassen ist. Es basiert auf einer Netzhaut-Prothese, die blinden Menschen ein minimales Sehen ermöglichen soll. Bei diesem System erfasst eine Minikamera, die in eine Art Brille integriert ist, die Bildinformationen. Diese werden dann drahtlos an das Implantat gefunkt. Es umfasst 60 kleine Elektroden, die elektrische Impulse auf die Netzhaut abgeben können. Auf diese Weise gelangen Bildinformationen über den Sehnerv in das Sehzentrum des Gehirns.
Die Punktstrukturen der Blindenschrift werden zu Impulsen
In der aktuellen Studie diente jedoch nicht die Kamera als Informationsquelle. Vielmehr wurden sechs Elektroden direkt zur Übertragung der Buchstabenformationen stimuliert. Für das Erkennen von Braille-Schrift reicht das aus, denn die Buchstabenidentität basiert auf maximal sechs Informationen. Sie entsprechen den fühlbaren Punkten, durch die Buchstaben und Symbole bei der Blindenschrift kodiert sind. Diese Punkte wurden dem Probanden also als elektrische Signale direkt auf die Retina gesendet.
Nach etwas Übung konnte er 89 Prozent der Buchstaben korrekt benennen und dadurch auch viele kurze Wörter lesen, berichtet Thomas Lauritzen vom Hersteller Second Sight. Um Texte flüssig erfassen zu können, sei das allerdings noch zu wenig, räumen die Entwickler ein. Sie sind aber zuversichtlich, dass sich das System weiter verbessern lasse. Langfristig könnte die Retina-Prothese zu einem System führen, das Blinden, deren Blindheit auf Augenerkrankungen wie Retinopathia pigmentosa beruht, digitale Texte zugänglich macht. Eine Software könnte sie demnach in Braille-Signale verwandeln, die dann über das Implantat ins Sehzentrum gelangen und dort ein Lesen ermöglichen, hoffen Thomas Lauritzen und seine Kollegen.
Thomas Lauritzen (Second Sight) et al.: Front. Neurosci. doi: 10.3389/fnins.2012.00168 © wissenschaft.de –
Martin Vieweg