Wenn wir Dinge in der Realität betrachten, sind unsere Reaktionen eindeutig: Wir schrecken vor einem gruseligen, hässlichen oder traurigen Anblick zurück, beispielsweise einer überquellenden Mülltonne, schlimmen Wunden oder einer Gewaltszene. Schönes und Anrührendes dagegen löst meist positive Gefühle aus. Unwillkürlich reagieren wir mit entsprechenden Emotionen auf das Gesehene. Aber wie ist das in einer Ausstellung, Galerie oder beim Kunsthändler? Seltsamerweise scheinen bei Kunst andere Regeln zu gelten: Sehen wir hier entstellte Körper, eine Kreuzigung oder verzerrte Gesichter, beispielsweise in einem Gemälde von Francis Bacon, können wir wortreich über die gelungene Komposition diskutieren oder die Bilder einfach als Kunstwerk bewundern. Über diese Unterschiede in der Wahrnehmung von Kunst und Realität philosophierte schon Immanuel Kant in seinem Werk Kritik der Urteilskraft aus dem Jahr 1790. Er war der Ansicht, dass der Genuss von Kunst und die Bewertung seiner Ästhetik eine gewisse emotionale Distanz erfordert.
Was hinter unserer Reaktion auf Kunst und Wirklichkeit steckt, haben nun Noah van Dongen von der Erasmus Universität in Rotterdam und seine Kollegen in einem Experiment untersucht. Dafür zeigten sie 24 Versuchspersonen jeweils eine Reihe von Bildern. Die Hälfte davon stellte eher traurige oder unangenehme Inhalte dar, die andere Hälfte angenehme. Der Clou dabei: Vor dem Betrachten der Bilder erklärten die Forscher den Probanden entweder, dass es sich bei den gezeigten Fotografien um Kunstwerke handelt oder aber dass es Fotos realer Ereignisse waren. Die Versuchspersonen sollten bei jedem Bild angeben, wie sehr sie es mochten und wie attraktiv sie es fanden. Während der Bildbetrachtung zeichneten die Wissenschaftler zudem ihre Hirnströme auf.
Gedämpfter Ausschlag
Wie erwartet fiel die Bewertung der Versuchspersonen unterschiedlich aus, je nachdem, ob sie glaubten Kunst oder Wirklichkeit vor sich zu haben. Hielten sie ein Foto für Kunst, stuften sie es trotz unangenehmer Inhalte positiver ein als einen vermeintlichen Schnappschuss einer realen Szene. Noch spannender aber war, was sich beim Bildbetrachten im Gehirn der Teilnehmer tat: Es zeigten sich klare Unterschiede in einem charakteristischen Signal der Hirnströme. Dieser Ausschlag tritt typischerweise 600 bis 900 Millisekunden nach einem visuellen Reiz auf und repräsentiert die emotionale Reaktion auf den Auslöser. Betrachteten die Teilnehmer ein vermeintlich reales Foto, war die Amplitude dieses Signals erheblich größer als wenn sie glaubten, ein Kunstwerk vor sich zu sehen, wie die Forscher feststellten. “Das zeigt, dass unser Gehirn anders reagiert, wenn wir erwarten, Kunst zu sehen”, sagt van Dongen. “Unsere emotionale Reaktion ist dann schon auf neuronaler Ebene stärker gedämpft.”
Nach Ansicht der Forscher könnte dies darauf hindeuten, dass wir instinktiv dazu neigen, Kunst distanzierter zu betrachten: Statt nur den Inhalt aufzunehmen, treten wir innerlich sozusagen ein Stück zurück, um die Nuancen von Farbe, Formen und Komposition bewerten zu können. “Unser Gehirn hat Mechanismen entwickelt, die es uns erlauben, unsere Reaktion auf Objekte und Wahrnehmungen je nach Situation anzupassen”, erklärt van Dongen. Bei der Betrachtung von Kunst sind diese Mechanismen offenbar ebenfalls aktiv. “Das spricht dafür, dass Kants Theorie der Ästhetik eine neurologische Basis haben könnte”, sagt der Forscher. Kant ging davon aus, dass wir uns emotional distanzieren müssen, um Kunst richtig wertzuschätzen. Wie sich nun zeigt, scheint unser Gehirn dies schon automatisch für uns zu erledigen.