Erstaunlich hartnäckige Winzlinge: Die Seehundläuse halten nun den Rekord des Klammer-Vermögens bei den Insekten, berichten Forschende. Die enorme Leistungsfähigkeit der Unterwasser-Parasiten beruht dabei auf „Karabinerhaken“-artigen Strukturen, mit denen sie sich an den Haaren ihrer Opfer befestigen. So konnten sich die Seehundläuse an den starken Strömungsdruck und die glitschigen Bedingungen im Wasser anpassen. Den Wissenschaftlern zufolge ist die Entdeckung auch aus technischer Sicht interessant: Das Natur-Patent könnte die Entwicklung von Unterwassergreifern inspirieren.
Die Insekten haben die größte Artenvielfalt des Tierreichs hervorgebracht und konnten sich durch viele raffinierte Anpassungen sehr unterschiedliche Lebensräume erobert. Das Meer bereitete diesen Wesen allerdings offenbar Probleme: Nur 13 Arten sind in der Lage, über lange Zeiträume im offenen Meer überleben zu können. Es handelt sich dabei um spezielle Vertreter der Läuse. Die entsprechenden Anpassungen haben sie hervorgebracht, weil sie im Lauf der Evolution ihren Wirten ins Wasser folgten: Die marinen Läuse sind aus Vorfahren hervorgegangen, die schon die landlebenden Ahnen von Seehund und Co plagten. Während die Meeressäuger im Verlauf ihrer Entwicklungsgeschichte Flossen und andere Anpassungen hervorbrachten, mussten sich auch ihre Parasiten auf die besonderen Herausforderungen im Meer einstellen.
Der Klammermechanismus im Visier
Im Fokus der Studie der Forschenden um Anika Preuss von der Universität Kiel stand nun die Seehundlaus (Echinophthirius horridus). Sie lebt vom Blut der Robben und Seehunde in der Nord- und Ostsee. Dabei muss sie den extremen Bedingungen standhalten, denen sie auf ihren Wirten ausgesetzt ist. Offensichtlich entwickelten diese Insekten eine erstaunliche Toleranz gegenüber dem Salzwasser, Sauerstoffmangel sowie intensiven Temperatur- und Druckschwankungen. Außerdem trotzen sie einer weiteren Herausforderung, der sich ihre terrestrischen Verwandten nicht stellen müssen: starkem Strömungsdruck bei glitschigen Bedingungen. Seehundläuse können sich auch bei der bis zu 20 Kilometer pro Stunde schnellen Fortbewegung fest im Fell der Robben verankern. Preuss und ihre Kollegen sind nun der Frage nachgegangen, wie dies den Unterwasser-Parasiten gelingt.
Die Untersuchungen führte das Team an Seehundläusen durch, die von Seehunden und Kegelrobben aus der Nord- und Ostsee stammen. Die Forschenden untersuchten den Körperbau der rund zwei Millimeter großen Insekten mittels Rasterelektronenmikroskopie sowie Laser-Scanning-Technologie. Außerdem führten sie Messungen der Haltekraft der Winzlinge durch und verglichen ihre Ergebnisse mit den Leistungen der Klammersysteme von anderen parasitären sowie nicht-parasitären Insekten. Wie das Team berichtet, waren die Ergebnisse der Kraftmessungen beeindruckend: Erst wenn die Forschenden mit einer Kraft an den Läusen zogen, die dem 18.000-fachen ihrer Gewichtsraft entspricht, löste sich ihr Haltesystem von erfassten Seehundhaaren. „Damit weisen die Seehundläuse die höchsten Haltekräfte auf, die unseres Wissens nach jemals bei Insekten gemessen wurden“, sagt Preuss.
„Karabinerhaken“ mit Bremsfunktion
Es zeigte sich, dass diese Leistung auf einem biomechanischen System basiert, das sich von demjenigen der landlebenden Läuse unterscheidet. Statt einer einfachen Krallenstruktur sorgt bei den sechs Greiforganen der Seehundläuse eine spezielle Struktur für das Haltevermögen, die einem Karabinerhaken ähnelt. Außerdem verhindert ein spezielles Element das Abrutschen an den umklammerten Haaren im Wasser. „Neben den ausgeprägten Krallen besitzt die Laus zusätzlich weiche, polsterartige Strukturen an der Innenseite, die wie eine Art Gummiring funktionieren“, sagt Preuss. „Wenn die Laus die Kralle schließt, kommen diese weichen Pads in direkten Kontakt mit dem Seehundhaar und erhöhen dabei die Reibung, sodass die Laus nicht einfach vom Fell des Seehunds abrutschen kann. Ein System, das ziemlich effizient unter Wasser und zudem bei sehr stark variablen Haardurchmessern funktioniert,“ erklärt die Wissenschaftlerin.
Die Studienergebnisse beleuchten damit nun die Anpassungen dieser erstaunlichen Vertreter der Insekten an die marine Lebensweise ihrer Wirte. „Am Beispiel der Seehundlaus lassen sich viele Herausforderungen aufzeigen, die mit Struktur-Funktions-Beziehungen bei marinen Wildtieren verbunden sind“, sagt Seniorautor Stanislav Gorb von der Universität Kiel. Wie das Team abschließend hervorhebt, geht die Bedeutung der Ergebnisse allerdings auch über die Biologie hinaus: Das Natur-Patent könnte ihnen zufolge auch technische Entwicklungen inspirieren. Dazu sagt Gorb: „Der Klammermechanismus könnte uns Hinweise für Innovationen im Bereich der Unterwasser- oder Universalgreifer geben: Die hochspezialisierten Mechanismen und Strukturen der Parasiten könnten uns dabei als Vorbilder dienen“, so der Wissenschaftler.
Quelle: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Fachartikel: Nature, Communications Biology, doi: 10.1038/s42003-023-05722-0