Forscher haben am Boden des grönländischen Eisschilds eine überraschend hohe Schmelzrate festgestellt, die sie auf einen bisher unbeachteten Faktor zurückführen: Der Fluss des Schmelzwassers von der Oberfläche zum kilometertiefen Grund des Grönlandeises setzt durch Reibungseffekte reichlich Wärmeenergie frei, die den Eispanzer von unten stark auftaut. Dies sollte nun in Einschätzungen einfließen, wie sich der Eisverlust Grönlands im Rahmen des Klimawandels weiter entwickeln wird, sagen die Wissenschaftler.
Der warme Hauch des Klimawandels nagt bedrohlich an den gigantischen Eismassen Grönlands, haben Studien der letzten Jahre verdeutlicht. Damit sind bekanntermaßen große Gefahren verbunden: Die enormen Schmelzwassermengen, die von der riesigen Insel fließen, tragen maßgeblich zum Anstieg des Meeresspiegels bei und sie könnten zudem die Strömungssysteme im Nordatlantik in kritischer Weise verändern. Gekennzeichnet ist das zunehmende Abtauen dabei von Wasserflächen und Bächen, die sich im Sommer auf dem Grönlandeis bilden.
Ein großer Teil dieser Wassermassen rauscht durch Risse und große Brüche im Eis kilometertief bis auf den Boden des Eisschilds. Es ist bekannt, dass dieses Wasser zu einem Abtauen von unten beitragen kann. Dieser subglazialen Flüssigkeit wird außerdem eine weitere kritische Rolle bei der Entwicklung des Eisverlustes zugesprochen: Das Wasser wirkt wie ein Gleitmittel, das die Mobilität des langsam fließenden Gletschereises erhöht. Das bedeutet: Je mehr subglaziale Flüssigkeit, desto stärker rutscht das Eis zu den Küsten Grönlands hin ab.
Einblicke in Prozesse am Gletschergrund
Um neue Einblicke in die Bedingungen und Prozesse an der Basis des Gletschereises sowie in die Bedeutung des Schmelzwasserabflusses zu gewinnen, hat ein internationales Forscherteam Untersuchungen am Store-Gletscher durchgeführt. Dabei handelt es sich um einen der größten Ausläufer des grönländischen Eisschildes. Zur Messung der Basalschmelzraten setzten die Forscher ein spezielles Verfahren der Radarsondierung ein. Zudem führten sie Temperaturmessungen in einem Bohrloch im Untersuchungsbereich durch.
Überrascht stellten sie bei den Datenauswertungen fest: Die mit dem Radar beobachteten Schmelzraten an der Basis des Gletschers waren oft genauso hoch wie die an der Oberfläche erfassten Werte. Dies erschien verwunderlich, denn die Oberfläche erhält im Sommer Energie, die Basis nicht. Die Temperaturmessungen in dem Bohrloch lieferten zudem weitere Hinweise auf die Ursache: An der Basis stellten die Forscher eine Wassertemperatur von bis zu 0,88 Grad Celsius fest, was für eine Eisbasis unerwartet warm erscheint.
So widmeten sich die Forscher anschließend der Erklärung der Befunde. Ihnen zufolge können Faktoren wie die Reibungswärme durch die Gletscherbewegung oder Geothermie den starken Effekt nicht erklären. “Was bisher kaum beachtet wurde, ist die Wärme, die durch das abfließende Schmelzwasser selbst erzeugt wird. Denn in dem Wasser, das sich an der Oberfläche bildet, ist eine Menge Gravitationsenergie gespeichert, und wenn es fällt, muss diese Energie irgendwo hingehen”, sagt Co-Autor Poul Christoffersen von der University of Cambridge. Im Prinzip wird dieses Energiepotenzial auch bei Wasserkraftwerken genutzt, um über Turbinen elektrischen Strom zu erzeugen. Im Fall der Wasserfälle im Eis setzt das Schmelzwasser hingegen durch innere Reibungsaktivität Wärmeenergie frei. Vor allem im Grundbereich der Gletscher ist die Umwandlung der Bewegungsenergie in Wärme stark ausgeprägt, erklären die Forscher.
Leistung wie ein riesiges Wasserkraftwerk
Sie widmeten sich auch der Quantifizierung dieses Faktors. Als Grundlage diente ihnen dabei die Berechnung der täglich abgeleiteten Wassermassen des Store-Gletschers im Sommer. Dabei kamen sie auf einen Wert von bis zu 82 Millionen Kubikmeter, die auf den Grund hinabrauschen. Daraus schlossen die Forscher auf Werte der Energiefreisetzung. Sie schätzen, dass die durch das fallende Wasser während der Schmelzspitzen erzeugte Leistung mit derjenigen des Drei-Schluchten-Staudamms in China vergleichbar ist – dem größten Wasserkraftwerk der Welt. „Im Fall des Eises entsteht allerdings Wärme, die das Eis von unten auftaut”, so Christoffersen.
Es ist davon auszugehen, dass dieser Prozess viele Bereiche des riesigen grönländischen Eisschildes betrifft und damit eine enorme Bedeutung besitzt. Die Studie zeigt somit einen Faktor beim Massenverlust auf, der in den Projektionen des globalen Meeresspiegelanstiegs bisher nicht berücksichtigt wird. Und es ist mit einer weiteren Verschärfung zu rechnen, wie Christoffersen abschließend hervorhebt: “In Anbetracht der in den hohen Breitengraden besonders stark fortschreitenden Erwärmung, könnte sich der Effekt der Wasserkraft leicht verdoppeln oder verdreifachen”, so Christoffersen.
Quelle: University of Cambridge, Fachartikel: Proceedings of the National Academy of Sciences, doi: 10.1073/pnas.2116036119