Dieter Swart misst Wildschweinbraten bei sich zu Hause aus – ehrenamtlich und aus tiefster Überzeugung. „Man kann doch nur Fleisch verkaufen, das in Ordnung ist.” 14 Wildsauen hat er heute schon vermessen.
Swarts Messaktion ist die Reaktion auf das strahlende Erbe der Wolke aus Tschernobyl, aus der im Jahr 1986 radioaktiv verseuchtes Material über Bayern und dem Südosten Baden-Württembergs abregnete. Die Folge: Im Süden der Republik „ strahlen” Wildschweine bis heute – kontaminiert mit „Radiocäsium” , (Cäsium- 137). Bei 600 Becquerel pro Kilogramm Lebensmittel liegt der EU-Grenzwert. Extrem belastete Tiere strahlen laut Bundesamt für Strahlenschutz teilweise mit 9800 Becquerel pro Kilogramm.
„Hier im Kreis Aichach müssen wir im Schnitt ein Viertel der geschossenen Wildschweine entsorgen”, berichtet Swart, der seine Messergebnisse seit 2001 akribisch dokumentiert. Nicht überall in Bayern sind die Zahlen derart dramatisch. In den Risikogebieten muss jede erlegte Sau zur Kontrolle. Und jede, die danach in der Tierkörperbeseitigung landet, ist eine zu viel. Die bayrischen Jäger wünschen sich eine bessere Lösung.
Und die könnte im Farbkasten liegen: Preußisch Blau, auch Berliner Blau genannt, geht mit Cäsium eine unlösliche Verbindung ein und hilft so, mit der Nahrung verzehrtes Radiocäsium auszuscheiden. Das zeigte sich bereits 1963 im Tierversuch. Eine Variante des in Aquarell- und Ölfarbe verwendeten Pigments ist in der EU als Futterzusatzstoff zugelassen: das Giese-Salz, chemisch: Ammoniumeisenhexacyanoferrat.
Das Salz könnte helfen, Schwarzwild zu dekontaminieren. Wildschweine werden „gekirrt”, wie man in der Jägersprache sagt, also mit Futter angelockt, um sie leichter schießen zu können. Das geschieht vorwiegend im Winter, wenn die Wildschweinjagd Hauptsaison hat. Und ausgerechnet dann strahlen die Wildschweine am stärksten.
Stark verseucht: Hirschtrüffel
„Heute waren alle bei Null”, sagt Swart, „aber das ist im Spätherbst normal.” Noch bieten die Äcker genügend Futter. Die Schwarzkittel lieben Mais und Kartoffeln. So lange es die gibt, bedienen sich die Tiere daran. Erst wenn die Felder abgeerntet sind, ziehen sie sich auf der Futtersuche in den Wald zurück. Und dann steigt die Radiocäsium-Belastung im Fleisch rapide.
„Das Hauptproblem sind die Schwammerln, die die Tiere fressen” , erklärt Joachim Reddemann, Hauptgeschäftsführer des Bayrischen Jagdverbands. Denn die Pilze nehmen den radioaktiven Stoff aus dem Boden auf. Die Mengen variieren, je nach Art, Standort und Bodenschicht, in die sie ihre fadenförmigen Fortsätze, die Myzelien, recken. Strahlender Spitzenreiter ist der Hirschtrüffel – mit bis zu 26 800 Bequerel pro Kilogramm Pilz. Frisst ein Wildschwein solch ein Exemplar, wird es massiv verstrahlt.
Die gute Nachricht: Radiocäsium wird mit dem Kot ausgeschieden. 26 Tage beträgt die biologische Halbwertzeit von Cäsium-137 im Wildschwein. Das heißt: Bereits nach 26 Tagen ist die Menge des Radionuklids auf die Hälfte gesunken. Die Belastung der Tiere normalisiert sich also wieder – bis zur Hirschtrüffelmahlzeit im nächsten Winter.
Könnte rechtzeitig verabreichtes Giese-Salz eine erneute Kontamination verhindern? Mit dieser Frage trat Reddemann an Ellen Kienzle heran, Professorin für Tierernährung an der Ludwig-Maximi- lians-Universität München. „Wir mussten zunächst die geeignete Dosis ermitteln und klären, ob die Tiere das blaue Kraftfutter überhaupt fressen”, sagt die Tierärztin.
Katja Meinel, eine Doktorandin von Kienzle, führte 2007 im Kreis Aichach einen ersten Fütterungsversuch durch. In zwei Gebieten kirrten Jäger mit blau gefärbtem Placebofutter, in einem weiteren mit Giese-Salz-Pellets. Messungen bei 17 Kontroll-Tieren und 20 Schweinen, die den Wirkstoff bekommen hatten, zeigten: Verglichen mit den Kontrolltieren hatte das Giese-Salz die Radiocäsiumbelastung um mehr als 84 Prozent reduziert. Das Team um Kienzle spielte die Situation noch zweimal durch – in unterschiedlichen Revieren und mit einer weit größeren Zahl an Tieren. Beide Studien, 2011 und 2014 veröffentlicht, kamen zum selben Ergebnis: Giese-Salz senkt die radioaktive Belastung im Wildschweinbraten.
Kienzle warnt jedoch vor Euphorie: „In extrem belasteten Gebieten bekommen Sie mit der Methode kein verwertbares Fleisch.” Das gelingt nur bei mäßiger Kontamination. Der Grund: Das Giese-Salz ist ein Ionenaustauscher. „Sind alle verfügbaren Plätze besetzt, kann das Salz kein weiteres Cäsium aufnehmen”, erklärt die Tierärztin. „Das ist wie bei einem Bus, der irgendwann einfach voll ist.”
Dazu kommt: Die Methode ist teuer und erfordert akribisches Kirren. Wer die blauen Pellets unregelmäßig auslegt, vermasselt die Sache. „Außerdem sind Wildschweine unberechenbar”, ergänzt Swart. „Die wechseln auch mal ihren Standort oder nehmen die Kirrung nicht an.”
Blaue Pellets füttern und sich auf eine strahlungsfreie Jagdsaison freuen – die Rechnung geht nicht überall auf. Swart wird daher weiter messen. Aber er macht das gern. „Nur meiner Frau muss ich mal wieder einen Blumenstrauß kaufen. Die ist ständig am Putzen, wegen der Stiefelspuren im ganzen Haus.” •
Von Stefanie Reinberger