Das Wasser unter dem Meereis der Antarktis galt lange als wenig lebensfreundlich. Eine neue Studie legt nun jedoch nahe, dass unter der dicken Eisschicht zumindest saisonal dennoch Phytoplankton wächst – die Nahrungsgrundlage für weitere Meereslebewesen. Die Autoren maßen den Chlorophyll-Gehalt und die Lichtintensität unter dem Eis und ergänzten die Messungen mit NASA-Erdbeobachtungsdaten und Klimamodellen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass bis zu fünf Millionen Quadratkilometer des mit kompaktem Eis bedeckten Südlichen Ozeans Bedingungen bieten könnten, die ein Algenwachstum ermöglichen.
Das dicht gepackte, meist schneebedeckte Meereis des Südpolarmeeres reflektiert fast alles auftreffende Licht. Bislang ging man daher davon aus, dass darunter kaum Photosynthese möglich ist und deshalb auch kein Phytoplankton wachsen kann. Schließlich benötigen die winzigen Algen, die die Basis aller aquatischen Nahrungsnetze darstellen, das Licht der Sonne, um Biomasse zu bilden. In der Arktis, wo das Eis bedingt durch den Klimawandel bereits dünner geworden ist und das Sonnenlicht weniger stark reflektiert als in der Antarktis, wurden bereits Phytoplanktonblüten unter dem Eis nachgewiesen. Ein Forschungsteam um Christopher Horvat von der University of Auckland in Neuseeland hat sich nun unter dem antarktischen Meereis auf Planktonsuche begeben.
Spurensuche mit Tauchrobotern
Bekannt war bereits, dass Planktonblüten im antarktischen Frühling und Sommer an Stellen auftreten, die saisonal nicht von Eis bedeckt sind. „Die Phytoplankton-Gemeinschaften im Südlichen Ozean reagieren rasch auf Veränderungen der Lichtverhältnisse“, erklären die Autoren. „Sobald sich die Meereiskante im Frühjahr zurückzieht, werden häufig Planktonblüten beobachtet.“ Horvat und sein Team vermuteten jedoch, dass die winzigen Algen auch unter dem Eis schon wachsen können. Um diese These zu überprüfen, schickten die Forscher automatisierte Tauchroboter, sogenannte Argo Floats, unter das dichte Eis, um biogeochemische Proben zu nehmen.
Die unter der Eisunterseite entlangschwimmenden Roboter maßen unter anderem den Gehalt an Chlorophyll-a im Wasser. Dieses Pigment wird für die Photosynthese benötigt und kommt bei allen Arten von Phytoplankton vor. Zusätzlich erhoben sie, wie viel Licht die dort gefundenen Planktonpartikel zurückstreuten – ein Maß für ihre Größe und Konzentration. Zwischen 2014 und 2021 unternahmen die Floater jeweils im Frühling und Sommer insgesamt 2197 Tauchgänge, die die Forscher zu 79 Messreihen zusammenfassten.
Phytoplanktonblüten schon vor Rückzug des Meereises
Das Ergebnis: „Wir fanden heraus, dass fast alle Messreihen unter dem antarktischen Meereis einen Anstieg des Phytoplanktons bereits vor dem Rückzug des Meereises aufzeigen”, so Horvat. „In vielen Fällen haben wir signifikante Blüten beobachtet“. Um die Daten einzuordnen, kombinierten die Forscher sie mit Erdbeobachtungsdaten der NASA sowie mit Klimamodellen: „Wir nutzten ein neues Datenprodukt, das vom Laser-Altimeter des neuen NASA-Satelliten ICESat-2 stammt, um die Kompaktheit des Eises um die Antarktis zu verstehen, und untersuchten mit einer Reihe globaler Klimamodelle, wie viel Licht den oberen Ozean erreicht“, erklärt Horvat.
88 Prozent der Messreihen, die unter dem kompaktem, zwischen 80 und 100 Prozent der Meeresoberfläche bedeckenden Meereis stattfanden, zeigten ein deutliches Phytoplanktonwachstum schon vor dem Rückzug des Eises. In 26 Prozent der Fälle war der Anstieg so deutlich, dass die Forscher ihn als Algenblüte unter dem Eis werteten. Möglich wird eine solche subglaziale Algenblüte aus Sicht der Forscher wahrscheinlich dadurch, dass die Eisdecke des Südpolarmeeres zwar dicht, aber nicht überall vollständig geschlossen ist: „Da das Meereis im Südpolarmeer oft aus einzelnen Schollen besteht, bleiben jeweils kleine Bereiche mit offenem Wasser frei, die Licht hindurch lassen und damit photosynthetisches Leben möglich machen“, sagt Horvat.
Verborgene Ökosysteme unter dem Eis?
Mit Hilfe der Satelliten-Daten und Klimamodelle verallgemeinerten die Forscher die von den Robotern erhobenen Ergebnisse. Ihren Schätzungen zufolge könnten drei bis fünf Millionen Quadratkilometer des eisbedeckten Südpolarmeeres Bedingungen bieten, unter denen sich Phytoplanktonblüten entwickeln können. Das könnte erhebliche Bedeutung für die antarktischen Ökosysteme haben: „Höhere trophische Ebenen wandern dorthin, wo die Produktivität ist, und wenn sie unter dem Eis liegt, könnte man erwarten, dass das Nahrungsnetz folgt“, so Horvat. Womöglich verbergen sich also bislang unentdeckte Ökosysteme unter dem Eis. Weitere Forschungen sind erforderlich, um diese – falls vorhanden – zu entdecken und ihre Funktionsweise zu verstehen.
Quelle: Christopher Horvat (University of Auckland, Neuseeland) et al., Frontiers in Marine Science, doi: 10.3389/fmars.2022.942799