Hinter der Kakerlake explodiert etwas. Das Insekt rast durch die enge Plexiglasröhre davon, als ginge es um sein Leben. Plötzlich stellt sich das Tier auf die Hinterbeine und rennt auf zwei Beinen weiter, den Plastiktunnel entlang – schneller als zuvor. Es passiert eine Lichtschranke, die die Laufgeschwindigkeit misst. Das Ergebnis bedeutet Weltrekord: 0,72 Kilometer pro Stunde! Damit ist die Kakerlake weltweit das schnellste Insekt zu Fuß – und der Star im Poly-PEDAL Lab der University of California in Berkeley. „Poly” bedeutet „viel”, und „PEDAL” kommt vom lateinischen Wort „pedes” – Füße. Zugleich steht es für „Performance, Energetics and Dynamics of Animal Locomotion”.
Zimperliche Studenten machen um das Poly-PEDAL Lab einen großen Bogen: Es wimmelt darin nur so von Kakerlaken, Krabben, Käfern, Ameisen, Tausendfüßlern, Saugwürmern, Geckos und anderen Echsen. Alles, was mehr als zwei Beine hat und sich bewegt, wird von Laborleiter Robert Full und seinen Mitarbeitern akribisch untersucht.
„Auch für mich sind Kakerlaken nicht unbedingt ästhetisch”, sagt Full. „Aber man muss sie nicht mögen, um sie faszinierend zu finden.” Hemmungen im Umgang mit ihnen hat er jedenfalls keine: Ohne zu zögern greift er in den Käfig und hält dem Besucher ein Prachtexemplar einer Fauchschabe unter die Nase. Es ist so groß wie ein Fünfmarkstück.
Warum kümmern sich Forscher wie Full hingebungsvoll um das Gekrabbel von Vielfüßlern? Mit den Zweibeinern scheint doch die höchste Stufe der Evolution erreicht zu sein: Aus acht Beinen bei Gliedertieren wurden sechs bei Insekten, vier bei Säugetieren und zwei beim Menschen – je weniger Laufwerkzeuge und je größer das Gehirn, umso mehr Stabilität und Flexibilität wurde gewonnen, und umso größere Distanzen lassen sich überwinden. Doch für den Biologen Full ist der Zweibeingang nicht in jeder Hinsicht der Gipfel der Perfektion: „Der Gang der Zweibeiner ist zwar sehr stabil, doch was Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit betrifft, sind uns Sechsbeiner trotz ihrer winzigen Gehirne haushoch überlegen.”
Im Poly-PEDAL Lab stehen Vorrichtungen, wie sie von olympischen Sportlern benutzt werden, um den optimalen Bewegungsablauf für einen Wurf oder Sprung herauszufinden – nur eben im Miniaturformat. Die Instrumente, auf denen sich die tierischen Versuchsobjekte abstrampeln, sind hoch empfindlich. Um die Kraft zu messen, die von einem einzelnen winzigen Insektenfüßchen ausgeübt wird, haben die Forscher eine spezielle Konstruktion gebaut: Die Insekten laufen auf einem Gel, das auf der einen Seite eine Lichtquelle und auf der anderen Seite einen Sensor hat. Sobald ein Tier einen Fuß aufsetzt, verändert sich der Lichtfluss im Gel. Der Sensor registriert dies und leitet die Informationen an einen Computer weiter, der die Kräfte des Insektentritts berechnet.
Anfangs kam das Gel aus dem Supermarkt: Es bestand aus Jell-O, einem zuckersüßen Wackelpudding. Weil die Versuchstiere aber mehr am Verzehr ihrer Unterlage als am Laufen interessiert waren, musste der verführerisch süße Glibber durch einfache geschmacklose Gelatine ersetzt werden.
Die Entdeckungen, die Full und seine Mitarbeiter mit ihren Versuchsobjekten machten, sind so verblüffend wie simpel. Früher nahmen Biologen an, dass sich vielbeinige Tiere radartig fortbewegen, indem sie jedes Bein abwechselnd heben und senken. Doch Full und sein Team entdeckten etwas ganz anderes: Vielbeiner verwenden ein „Dreipunkt-Prinzip”. Bei Sechsfüßlern sieht das so aus: Zwei Beine auf der einen und ein Bein auf der anderen Seite formen ein Dreieck, das auf dem Boden bleibt, während das zweite Dreieck vorwärts schwingt. Auch Tausendfüßler bewegen sich auf diese Weise: Ihre Beine bilden Dreiergruppen auf jeder Seite. Und noch ein weiteres Krabbel-Gesetz fanden die Wissenschaftler. Bei Vielfüßlern funktionieren die Beine wie ein Springstock mit eingebauten Federn.
Auf diese Erkenntnis kamen sie ganz zufällig. Fulls Studenten wollten herausfinden, warum Insekten so schnell wieder ins Gleichgewicht kommen, wenn man sie aus dem Tritt gebracht hat. Dafür schnallten sie einer Kakerlake eine kleine Kanone auf dem Rücken. Nachdem die Kanone eine winzige Kugel abgefeuert hatte, stolperte die Schabe. Doch einige wenige Schritte nach der Störung setzte sie ihren Weg unbeirrt mit gleicher Geschwindigkeit fort. Als die Wissenschaftler nachforschten, wie die Schabe dies fertig brachte, stellten sie fest: Das Insekt fand so schnell zu seinem Gleichgewicht zurück, weil es keinerlei Feedback von seinem Gehirn erhielt. Die Beine selbst – genauer: die Beinmuskeln – verarbeiteten das Störungssignal und stabilisierten sich dadurch selbsttätig.
In Deutschland ist das Team von Holk Cruse am Fachbereich Biologische Kybernetik der Universität Bielefeld hinter den Tricks des Insektenlaufs her. In seinen Labors müssen Stabheuschrecken Hindernisparcours absolvieren, und Flusskrebse trippeln auf Laufbändern mit Messfühlern auf ihren Panzern. Immer wieder werden die Schalentiere beim Geradeaus-Laufen gestört, indem Cruses Assistent einfach eines ihrer acht Beine festhält: „ Wie die Beine zu einem stabilen Gang zurückkehren, gibt uns auch Aufschluss darüber, wie das System ,Laufen‘ als Ganzes funktioniert”, erklärt er. Die käfigartige Versuchsvorrichtung mit einem unermüdlichen Krebs in der Mitte registriert nicht nur die Position des Beines, sondern auch die Kraft, die es entwickelt und die Erregung, die in den Muskelzellen entsteht.
„Bob Full interessiert sich für das Autonome im System: Das sich selbst lenkende Bein, das kein Feed-Back von einer zentralen Instanz braucht”, erklärt Kybernetiker Cruse. „Wir interessieren uns mehr für die Ebene darüber: Wie arbeiten sechs Insektenbeine oder acht Krebsbeine zusammen, ohne ständig übereinander zu stolpern?”
In Bielefeld sind die Stabheuschrecken die Hauptakteure. Wie sie mit ihren 6 Beinen und 18 Gelenken über Hindernisse laufen, Kurven nehmen und sich aufrichten, erstaunt Cruse immer wieder: „ Die Diskrepanz zwischen diesen komplexen Herausforderungen und der Einfachheit, mit der die Bewegungen kontrolliert werden, ist erstaunlich.” Cruses Ergebnisse bestätigen Robert Fulls Kakerlaken-Theorie auf der nächst höheren Ebene: Auch bei Stabheuschrecken stehen die sechs krabbelnden Beine nicht unter der Kontrolle eines zentralen Nervensystems. Sie koordinieren sich direkt untereinander, nehmen Umwelteindrücke wahr und verarbeiten sie gleich vor Ort. Das Ergebnis: Eine geordnete Bewegung aller Beine. Trifft die Stabheuschrecke unerwartet auf ein Hindernis, muss diese Information nicht erst an das Zentrale Nervensystem (ZNS) weitergeleitet werde. Es genügt, wenn die Muskeln und Nerven der beiden Vorderbeine das Hindernis „ registrieren” und an die restlichen vier Beine weitergeben. Das Ergebnis: Die Schrecke macht kehrt – auf allen Sechsen.
Ganz ohne ZNS geht es aber auch bei Insekten nicht: Zum Beispiel werden Anfang und Ende des Laufvorgangs, seine Geschwindigkeit und Richtung vom Gehirn aus gelenkt. So seltsam die Experimente mit Insekten, Krabben und Tausendfüßlern auch anmuten mögen, für die Grundlagenforscher Cruse und Full sind sie kein Selbstzweck. Ihre Ergebnisse sollen anderen Wissenschaftlern als Inspiration für Erfindungen dienen. Fulls Lehrstuhl in Berkeley heißt „Integrative Biologie”, weil seine Forschungen Erkenntnisse aus der Biowissenschaft mit Informatik und Ingenieurwissenschaften integrieren. „Wir nennen das ,Bioinspiration‘”, sagt Full. „Wir mögen das Wort ,Biomimetik‘ nicht, denn es geht nicht um die bloße Nachahmung der Natur.”
Die Natur eins zu eins zu kopieren, hält er für sinnlos, da die Tiere in ihren Entwicklungsmöglichkeiten beschränkt sind. Sie können höchstens von Generation zu Generation kleine Veränderungen an ihrem Erbgut vornehmen. Ingenieure dagegen können am Reißbrett optimale Lösungen entwerfen, die der Natur überlegen sind. Dabei liefert die Tierwelt – insbesondere der Teil, der sich auf sechs Beinen und mehr fortbewegt – erstaunliche Design-Ideen: „Wir erforschen die Prinzipien, Ingenieure setzen sie in die Praxis um”, nennt Full das Ziel seiner Arbeit.
Die Robotik-Pioniere Rodney Brooks und Mark Raibert vom Artificial Intelligence Lab – dem Labor für Künstliche Intelligenz – am Massachusetts Institute of Technology in Boston sind solche „Umsetzer”. Brooks hatte schon vor einem Jahrzehnt in seiner Abteilung Roboter gebaut, die auf schwierigem und gefährlichem Gelände – wie der Oberfläche anderer Planeten – laufen sollten. Raiberts Gruppe konstruierte damals ein-, zwei- und vierbeinige Roboter, die sich ähnlich wie Menschen fortbewegten. Brooks’ Vehikel waren zwar extrem robust, doch sie kamen nur langsam und träge voran. Raiberts Maschinen dagegen konnten bis zu 21 Kilometer pro Stunde laufen, Hindernisse überspringen und Treppen steigen. Sobald sie sich nicht mehr bewegten, fielen sie allerdings um.
In Zusammenarbeit mit Full entdeckten die Ingenieure, dass der Gang von Vielfüßlern die beiden Eigenschaften kombiniert, die ihren Robotern fehlten: Stabilität und Manövrierfähigkeit. Der nächste Schritt lag nahe: Einen Roboter bauen, der sich so bewegt wie Fulls Lieblingsversuchstier. Nach dem Vorbild einer Kakerlake entstand „RHex” – abgekürzt von „Robot Hexapod”. Etwa so groß wie eine Schuhschachtel, kann sich RHex behände auf einem Hinderniskurs bewegen – mit respektablen elf Stundenkilometern. Seine sechs Beine sind in der Horizontalebene angeordnet wie bei Krabben, Eidechsen und Kakerlaken: „RHex sieht nicht aus wie eine Kakerlake, aber die wichtigsten Prinzipien des Insekts haben wir auf ihn übertragen”, sagt Full stolz.
Der Roboter hat selbstkorrigierende Reflexe durch eingebaute Federn und Stoßdämpfer, aber kein Gehirn. „Das ist auch nicht notwendig, weil sich seine Beine selbst stabilisieren”, erklärt Full. Mit einem Set Batterien kommt RHex immerhin 3700 Meter weit, außerdem kann er Hänge von 45 Grad Steigung bewältigen, schwimmen und Treppen steigen. Im Zuge seiner Entwicklung statteten ihn Ingenieure mit immer mehr Sensoren aus, zum Beispiel einer Farbkamera und Beschleunigungsmessern. Der Prototyp wird heute von der kanadischen Firma Mecheligent zu einem kommerziellen Produkt umgebaut.
Finanziert wurde die Entwicklung von RHex zum größten Teil von der DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency), der Forschungsabteilung des US-Verteidigungsministeriums. Das Interesse der Behörde an den Vielfuß-Robotern ist groß: Bei Einsätzen auf rauem, gefährlichem Gelände in Kriegsgebieten sollen Roboter die Aufgaben von Soldaten übernehmen. Auch die US-Raumfahrtsbehörde engagiert sich für Bob Fulls Roboter: Im Moment verhandelt er gerade mit der NASA darüber, ob RHex bei der Mars Mission im Jahr 2007 mit dabei ist. Roboter mit Beinen werden dort dringend gebraucht, denn sie können leichter als Vehikel mit Rädern über unwirtliches oder unbekanntes Terrain navigieren.
Der bisher nützlichste Roboter aus Fulls Werkstatt heißt Ariel: Der erste Roboter mit Beinen, der sowohl an Land als auch unter Wasser laufen kann. Nach dem Vorbild von Krabben wurde Ariel speziell für die so genannte Surfzone an der Küste entworfen. Ariels stromlinienförmiger Körper minimiert Sogkräfte. Er ist fähig, Hindernisse und Abgründe zu überwinden, die normale Roboter auf Rädern aufhalten würden. Und er kann Wellen standhalten. Wirft ihn eine um, drehen sich seine Beine einfach um die eigene Achse: Was vorher der Rücken war, wird nun der Bauch und umgekehrt.
Ariel – benannt nach der Hauptfigur Arielle des Disney-Zeichentrickfilms „Die kleine Meerjungfrau” – wird inzwischen von iRobot gebaut, dem Unternehmen von Rodney Brooks. In Zukunft soll der Roboter zum Minensuchen in der Surfzone eingesetzt werden – in Kriegsgebieten, die am Meer liegen. Auch in Ariels Entwicklung floss reichlich Geld von der DARPA.
Trotz des massiven Sponsoring durch die US-Armee hofft Robert Full, dass die vom Poly-PEDAL Lab inspirierten Roboter hauptsächlich bei friedlichen Such- und Rettungsaktionen zum Zuge kommen werden. Seine Lieblingsvision für die nahe Zukunft: Kleine Roboter mit vielen Beinen durchsuchen zerstörte Gebiete nach verschütteten Menschen, und ameisengroße Miniroboter nehmen mikrochirurgische Eingriffe im menschlichen Körper vor. Ingenieur Kris Pister vom Robotics Lab der Universität Berkeley arbeitet bereits daran.
Bob Full träumt schon von einer neuen Generation von „Soft Robots” – „weichen Robotern”, ausgestattet mit sich selbst steuernden Muskeln, die über Freiheitsgrade ganz anderer Dimensionen verfügen als die bisherigen Roboter aus Metall und Kunststoff. Das im Poly-PEDAL Lab entdeckte Prinzip der Selbststabilisierung hat die Vorstellung der Wissenschaftler über künstliche Muskeln völlig verändert. Frühe Entwürfe für künstliche Gliedmaßen sehen aus, als wären sie für Schwarzeneggers Terminator bestimmt: stählerne Gelenke mit Sehnen aus Draht, die zentral von einem Computer gesteuert werden.
Nachdem Fulls Gruppe herausgefunden hatte, dass zum Laufen überhaupt keine Lenkung durch das Gehirn notwendig ist, brauchten die Forscher selbstständig arbeitende Muskeln, ähnlich wie die eines Insekts. Das Poly-PEDAL Lab arbeitet zu diesem Zweck mit der Firma SRI International aus dem kalifornischen Palo Alto zusammen, die Soft Electro Active Polymers (EAP) herstellt. Wenn man einen Film aus EAP als Isolierschicht zwischen zwei Elektroden bringt und unter Spannung setzt, dehnen sich die Moleküle darin aus. Schaltet man die Spannung ab, ziehen sie sich wieder zusammen und werden dicker – genau wie echtes Muskelgewebe.
Tests haben ergeben, dass die EAPs aus Acryl und Silizium eine ähnliche Leistung pro Kilogramm Körpergewicht erbringen können wie echte Muskeln. EAP werden bisher schon als Aktoren – also ausführende Elemente – eingesetzt: So entwickelt SRI International derzeit künstliche Muskeln bei kleinen mobilen Robotern von einem Zentimeter Größe, gesponsert vom japanischen Ministerium für Außenhandel und Industrie (MITI).
Echte Muskeln arbeiten jedoch nicht nur als Aktoren, sondern auch als Sensoren: Sie können Signale aus der Umwelt aufnehmen und innerhalb von Millisekunden in Bewegung umsetzen. Solche Muskeln hoffen Forscher wie Yoseph Bar-Cohen vom California Institute of Technology in Zukunft an biologisch inspirierten Robotern einsetzen zu können. Derartige Roboter könnten große Distanzen überwinden, in dem sie so elastisch hüpfen wie Grashüpfer. Aber auch Roboter, die dank ihrer Muskeln fliegen oder sich schlangenartig winden können, sind denkbar.
Sogar in der Medizin könnten künstliche Muskeln helfen: „Eines Tages werden wir dank der EAP-Technologie einen früheren Rollstuhlfahrer zum Supermarkt joggen sehen”, behauptet Bar-Cohen. Um derlei fantastische Träume wahr zu machen, reicht jedoch die mechanische Energie der bisher verfügbaren EAPs nicht aus.
Ein weiterer Traum ist es, mit Hilfe der EAPs ein intelligentes Material zu entwickeln, das sich ohne Steuerung von außen an gegebene Verhältnisse anpasst: „Wäre es nicht toll, einen Schuh zu tragen, der einem optimal passt?”, fragt Bob Full und blickt auf seine voluminösen Füße. Denkbar wären auch Sohlen, die sich dem Boden, auf dem man gerade joggt, exakt anschmiegen. „ Oder Pullover, die sich je nach Bauchumfang des Trägers formen und dabei gut sitzen”, schmunzelt er und tätschelt seinen runden Bauch.
Dann wird Full wieder ernst und philosophiert über das oberste Prinzip des Poly-PEDAL Lab. Es beruht auf einem Zitat des dänischen Nobelpreisträgers August Krogh: „Bei einer großen Anzahl von Problemen gibt es stets irgendein Tier, das als ideales Untersuchungsmodell dienen kann.” Bioinspiration ist also nur möglich durch Biodiversität, interpretiert Full. Ein starkes Argument für den Umweltschutz, meint er: „Wenn immer mehr Arten von der Erde verschwinden, gehen viele wundervolle Design-Ideen verloren.” ■
Evelyn Hauenstein
Ohne Titel
Dichte graue Haare, riesenhafter Schnurrbart und ein einnehmend lächelndes großes rundes Gesicht erwarten den Besucher im Poly-PEDAL Lab. Robert Full, der 40-jährige Professor für Integrative Biologie freut sich über jeden Besucher, der sich für seine Forschung interessiert. „Als Kind hatte ich zwei große Interessen”, erinnert er sich, „Sport, vor allem Baseball – und ungewöhnliche Tiere.” Beim Strandurlaub in Florida sah der zehnjährige Bob Krabben über den Strand flitzen: „Ich wollte unbedingt wissen, wie sie sich mit ihren sechs Beinen so schnell fortbewegen können.”
Full klingt immer noch begeistert wie ein Zehnjähriger, wenn er von seiner Arbeit erzählt. Nach der Highschool studierte er Biologie an der State University of New York in Buffalo. Zwei Jahre nach seiner Promotion erhielt er den Ruf nach Berkeley – zuerst noch als Zoologe, später bekam er einen Lehrstuhl für Integrative Biologie. Es folgte ein eigenes Labor – und schließlich ein eigenes Institut in Berkeley, das sich zur Zeit noch in der Entstehungsphase befindet.
Full arbeitet nicht nur mit ungewöhnlichen Tieren, sondern auch mit untypischen Mitarbeitern: jungen Studenten. In den letzten 15 Jahren haben in seinem Labor mehr als 60 Studenten mitgewirkt, die ihren Abschluss noch nicht gemacht haben – so genannte Undergraduates. In anderen Labors sind sie nicht gerne gesehen: Undergraduates bringen kaum Vorkenntnisse mit und kosten den fest angestellten Mitarbeitern eine Menge Zeit. Doch Full sieht das anders. Nicht umsonst hat er eine der höchsten Auszeichnungen erhalten, die die University of California in Berkeley zu vergeben hat: den „Distinguished Teaching Award”, eine Auszeichnung für hervorragende Lehrtätigkeit. „Ich wäre nicht da, wo ich heute bin, wenn sich nicht jemand um mich bemüht hätte, als ich noch Undergraduate war.”
Bob Full verlangt viel in seinen Kursen, doch er gibt auch viel: Er liebt es, mit den Leistungen seiner Studenten zu prahlen, und er nennt sie als Co-Autoren, wenn er in den hochrangigen Fachblättern Nature und Science veröffentlicht. „Es ist unglaublich, mit welchen Ideen die Undergraduates hier ankommen”, sagt er. In seinem Biomechatronics-Kurs muss jeder Student einen von der Natur inspirierten Roboter bauen. Eine der Schöpfungen aus dem Kurs steht in Fulls Regal: eine gelbschwarze Schlange aus Legosteinen.
Sie ist nicht allein. Aus den Regalen quillt das Spielzeug nur so hervor: Plüschkäfer und Plastikkrabben sitzen neben Actionfiguren aus dem Disney- Pixar-Kinofilm „A Bug’s Life”. Full konstruiert nicht nur Roboter, er berät auch Filmproduktionsfirmen. Zum Beispiel Pixar Animation, bekannt durch den Kassenschlager „Findet Nemo”. Dank Fulls Videoaufnahmen von Ameisen, Raupen und Kakerlaken konnten die Zeichentrick-Insekten in „A Bug’s Life” lebensecht animiert werden. Auch in die Charakterzüge der Trickfilmdarsteller sollen seine Studien eingeflossen sein.
Trotzdem: Kakerlaken werden im Film als üble Plage dargestellt. Offensichtlich hatte man Full hier nicht zu Rate gezogen. Wie sonst könnte den Hollywood-Filmemachern entgangen sein, was die Welt von Kakerlaken lernen kann?
Ohne Titel
EVELYN HAUENSTEIN ist Wissenschaftsjournalistin und Frauenärztin in München – und stark beeindruckt von den rasenden Riesenschaben.
COMMUNITY Erleben
Bis zum 12. März zeigt das Naturhistorische Museum Heilbronn Bionik zum Anschauen und Mitmachen:
Hightech Labor Natur
Naturhistorisches Museum
Kramstr. 1
74072 Heilbronn
Tel. 07131/ 56 2302
www.bionik-hn.de
Studieren
Wer neidisch auf Bob Fulls Studenten geworden ist, muss nicht nach Berkeley reisen: An der Hochschule Bremen gibt es seit dem Wintersemester 2003/04 einen Internationalen Studiengang Bionik (ISB). Wie im Poly-PEDAL Lab dreht sich auch in Bremen alles um Innovationen aus der Natur. Auf dem Stundenplan stehen die Themengebiete Biosensorik, Robotik, Lokomotion und die Erforschung neuer Materialien. Das Studium dauert sieben Semester und schließt mit dem Bachelor of Science ab.
Ohne Titel
• Gliedertiere krabbeln hirnlos. Das ermöglicht ihnen extrem schnelle Reaktionen.
• Geckos können an der Decke entlang kriechen, weil sie die schwachen Anziehungskräfte zwischen den Atomen nutzen.
• Ergebnisse der Laufforschung werden von Ingenieuren für die Entwicklung verschiedenster neuer Produkte genutzt – von Robotern bis zu Klebstoffen.
Ohne Titel
Bauarbeiter-Handschuhe schützen Bob Fulls Hände, während er sich langsam dem Käfig nähert. Vorsichtig fasst der Chef des Poly-PEDAL Lab, der sonst wenig Hemmungen bei der Berührung mit seinen Versuchsobjekten hat, um den Bauch eines rund zehn Zentimeter langen Geckos. Mit gutem Grund: Die Bisse des Reptils können tief ins Fleisch gehen.
Doch Bob Full interessieren nicht die Zähne, sondern die Füße des grün schillernden Reptils: Ein Gecko kann mit einer Geschwindigkeit von einem Meter pro Sekunde die Wand hoch laufen und mit einem Fuß an der Decke hängen, ohne sich dabei groß anstrengen zu müssen. Wie das möglich ist, war lange ein Rätsel. Erst die Poly-PEDAL-Forscher entdeckten Erstaunliches: Die Zehen des Geckos kleben geradezu an der Oberfläche. Wenn er die Wand hoch rast, hebt er seine Zehen 30-mal pro Sekunde von der Oberfläche ab – so rasch wie man ein Post-it vom Papier abzieht.
Full entdeckte, dass an einer Geckozehe Millionen von winzigen Haaren sitzen, die so genannten Setae. Ein solches Haar ist an seiner Basis nur ein Hunderttausendstel Millimeter groß: der doppelte Umfang eines menschlichen Haars. Doch bis zur Spitze teilt es sich immer wieder auf – der kleinste Haarspliss, den man sich vorstellen kann. Jedes Seta endet mit rund 1000 Verzweigungen, die nur nanometergroß sind.
Doch von der Größe darf man sich nicht täuschen lassen: Die Haare eines Geckos stellen Spiderman in den Schatten. Denn ein einzelnes Seta könnte eine Ameise heben, die hundertmal schwerer ist als das Härchen selbst. Eine Million Setae, die leicht auf ein Zehncent-Stück passen, könnten ein Kleinkind hochheben. Und das ohne klebrige Flüssigkeiten oder Rückstände: Geckos verwenden das Prinzip der Trockenhaftung, die unabhängig von den chemischen Eigenschaften der Haftfläche funktioniert und keine Spuren hinterlässt.
Fulls Team fand heraus, wie das möglich ist: Die enorme Kraft der Setae entsteht nicht durch Saug- oder Kapillarkräfte, wie bisher angenommen wurde. Das mühelose Laufen auf senkrechten Oberflächen gelingt den Geckos vielmehr durch schwache Kräfte, die Atome und Moleküle zusammenhalten – die so genannten Van-der-Waals-Kräfte.
Gelänge es, das Gecko-Prinzip in einen trockenen, wiederverwendbaren, selbstreinigenden Kleber umzusetzen, gäbe es verlockende kommerzielle Anwendungsmöglichkeiten für schwierige Umgebungen: Sowohl im Vakuum bei der Chipherstellung als auch im Körperinneren bei chirurgischen Eingriffen oder im Weltraum müssen Dinge vorübergehend befestigt werden. Für Arbeiten in diesen Umgebungen wäre ein Material optimal, das nicht mit den chemischen und physikalischen Eigenschaften der Umwelt interagiert. Fulls Superkleber würde keine klebrigen Spuren hinterlassen – weder an den hoch empfindlichen Chips noch an den schwer zu reinigenden Außenseiten eines Space Shuttle.
Mithilfe des Gecko-Prinzips ließe sich auch ein extrem mobiler Roboter bauen, der sich an glitschigen senkrechten Wänden hochziehen und an einem einzigen Haar von der Decke herablassen könnte. Der Ingenieur Alan DiPietro von der US-Firma iRobot hat bereits einen geckoähnlichen Roboter namens „Mecho-Gecko” konstruiert, der über Wände und Decken krabbeln kann – allerdings noch weit entfernt von der Geschwindigkeit und Ausdauer seiner lebenden Vorbilder.
Sowohl der Superkleber als auch der blitzschnelle Haftroboter könnten schon bald Realität werden: Fulls Kollegen, dem ebenfalls in Berkeley lehrenden Ingenieur Ron Fearing, ist es gelungen, die tausendfach verzweigten Haarspitzen aus Polyurethan nachzubauen. Die verschiedensten Firmen interessieren sich bereits für Fearings Patent: Von der NASA bis zum Sportausstatter Nike, der den ultimativen Kletterschuh entwickeln will – vermarktbar mit dem Slogan „Just stick to it”. Der Konzern Johnson & Johnson will gar ein geckoinspiriertes Pflaster herstellen, das kleine Blutgefäße, Nerven und Muskelfasern wieder zusammenfügt und damit praktisch die Funktion eines Chirurgen übernimmt: Nähen unnötig.