Unsere Südamerika-Reise endet an den Wasserfällen von Iguacu. Dieses Naturwunder zu beschreiben, ist unmöglich. Wer das nicht gesehen hat, wie sich schlammbraunes Wasser in eine Gardine aus sprühendem Weiß verwandelt, dann in eine Wolke aus blendender Gischt, wer die doppelten Regenbögen nicht gesehen hat, die eine gut gelaunte Sonne über den Wasserabgrund spannt und die Segler, die todesmutig hineinfliegen bis hinter das stürzende Wasser – wer das nicht gesehen hat, weiß nicht, wovon wir schweigen.
Wir, eine überwältigte Reisegruppe aus Deutschland. Selbst die Österreicherin, die alles schon kennt auf dieser Welt, ist geblendet. Wir erholen unsere Augen vom Weiß, indem wir ins Grün des Regenwalds blicken. Auf allen Gesichtern dasselbe Strahlen. Reiseleiter Andreas Gross, der schon mehr als ein Dutzend mal hier war, aber doch nie bei solcher Beleuchtung, ist dem Wahnsinn nahe. Dabei ist er es doch, der durch geniale Umstellungen im Programm den idealen Zeitpunkt für unseren Ausflug auf die argentinische Seite der Wasserfälle getroffen hat.
Gestern war der Tag, an dem wir drei Länder bereisten: Von unserem Hotel, das in Brasilien direkt gegenüber den Wasserfällen im Nationalpark steht, fuhren wir zuerst mit dem Bus zum binationalen Wasserkraftwerk Itaipu. Auf der Staumauer fahrend, passierten wir mitten im Fluss die Grenze zu Paraguay. Zehn Turbinen erzeugen hier für das große Brasilien Strom und decken den Energiehunger der südamerikanischen Wirtschaftsmacht. Zehn weitere arbeiten für das kleine Paraguay. Da es so viel Strom nicht braucht, zahlt es mit dem Überschuss seine Schulden an Brasilien zurück, die es seit Baubeginn 1974 beim Nachbarn hat. Dann geht es wieder zurück nach Brasilien und zum Mittagessen nach Argentinien. “Ein Dreiländereck”, sagt unser lokaler Experte Max, ein Brasilianer deutscher Abstammung. Als er einmal nach Europa reiste, besuchte er als Erstes das Dreiländereck Deutschland – Österreich – Schweiz am Bodensee. Es hat ihm sehr gefallen, auch wenn der Rheinfall von Schaffhausen mit den Iguacu-Fällen nicht mithalten kann.
Max spricht Brasiliendeutsch. Es hat eine leicht veränderte Grammatik und keine Umlaute. “Zindhölzchen” sagt Max, wenn er von Zündhölzchen spricht. Andreas Gross schlägt an diesem Dreiländertag große Bögen bei seinen Referaten im Bus. Wir nehmen mit, dass Brasilien die Wirtschaftskrise fast unbeschadet überstanden hat, vor Optimismus sprüht und den Motor für ganz Südamerika spielt. “Ein Land der Zukunft” hat es schon Stefan Zweig genannt. Brasilien investiert in Bildung und Umweltschutz. Beides ist nötig, beides wird sich auszahlen. Beruhigend außerdem: Die Zeit der Revolutionen, Militärputsche und der in Fantasie-Uniformen regierenden Diktatoren scheint endgültig vorbei in Südamerika. Wenn es irgendwo in den Kasernen brodelt, intervenieren sofort die Regierungen der großen Mächte Brasilien und Argentinien.
“Was macht eigentlich Lula da Silva zur Zeit?”, will ich wissen. Es ist so still geworden um den populären ehemaligen Präsidenten von Brasilien, seit er nach zwei Amtszeiten die Regierungsgeschäfte an die Nachfolgerin Dilma Roussef übergeben musste. Mir imponiert der kleine, kompakte Mann, der in einer Analphabeten-Familie aufwuchs, es vom Schuhputzer zum Gewerkschaftsführer und kommunistischen Agitator brachte, schließlich zum erfolgreichen Sozialreformer und Weltpolitiker von Format. Andreas Gross weiß es nicht, fragt aber unter unseren brasilianischen Begleitern herum. Dann kommt er mit der Antwort: “Lula tut, was sich alle von ihm wünschen: Er regiert!” Offensichtlich zieht er im Hintergrund die Fäden, berät Dilma und wartet auf die nächsten Wahlen, bei denen er wieder antreten darf.
Tierisch gesehen, wird der Tag von den mutigen Seglern (“nicht verwandt mit den Schwalben”, klärt Burmeister auf) und von den kessen Nasenbären dominiert. An den Haltepunkten der kleinen Eisenbahn, die Besucher von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt befördert, lauern sie auf die Touristen und ihre Wandervorräte. Der Informatiker mit der großen Kamera aus unserer Reisegruppe hält immer noch Ausschau nach dem Riesentukan. Möglicherweise findet er ihn, während ich dieses schreibe.
Am Abend verabschiedeten wir uns von unserem unermüdlichen wissenschaftlichen Reiseleiter Ernst-Gerhard Burmeister oder – um es mit der Peruanerin Maria zu sagen – von “der Biologie”. Auch ihm hat es bei uns gefallen, er spendiert eine Runde Drinks. Während ein paraguayisches Duo mit Harfe und Gitarre sentimentale Weisen klampft, sagen wir auch ein vorläufiges Adios zu unserem genialen Reiseleiter Andreas Gross und zu einander. Eine Gruppe aus extrem unterschiedlichen Persönlichkeiten hat zusammengehalten und viele Strapazen gemeistert. Es ist Zeit heimzukehren. Am 21. September, fliegen wir.
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