Erstaunliche Neuigkeiten aus der Ameisenforschung: Die Puppen der sozial lebenden Insekten produzieren eine milchähnliche Substanz, die andere Mitglieder des Volkes trinken. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass vor allem die Larven die nährstoffreiche Flüssigkeit zum Wachsen brauchen. Das „Melken“ ist offenbar ebenfalls lebenswichtig: Wenn die Flüssigkeit nicht aufgenommen wird, verschimmeln die Puppen. Dieses Konzept scheint bei allen Gruppen der Ameisen verbreitet zu sein. Die überraschend neuen Befunde tragen nun zum Verständnis bei, wie sich die faszinierenden Insektengesellschaften entwickelt haben und organisiert sind, sagen die Forscher.
Sie prägen unseren Planeten wie kaum eine andere Insektengruppe: Viele verschiedene Arten von Ameisen haben sich die unterschiedlichsten Lebensräume der Welt erobert und spielen in den Ökosystemen eine wichtige Rolle. Wegen dieser Bedeutung stehen die Ameisen schon lange im Fokus der Forschung – und auch wegen ihrer faszinierenden Lebensweise. Denn durch ihre komplexe Organisation bilden die Ameisen einer Kolonie eine erstaunliche Einheit: Arbeitsteilung, Stoffaustausch und Informationsweitergabe – durch die vielfältigen Interaktionen der Individuen untereinander entsteht ein System, das als ein „Superorganismus“ bezeichnet wird. Forscher gewinnen immer detailliertere Einblicke in dieses faszinierende Konzept. Grundlegend Neues gibt es bei den Ameisen hingegen eher nicht mehr zu entdecken, könnte man meinen. Doch was die Wissenschaftler um Orli Snir von der Rockefeller University in New York nun aufgedeckt haben, ist „Big News“ in der Ameisenforschung.
Was sammelt sich da ab?
Wie das Team erklärt, wurde das Phänomen durch die schnellen Abläufe bei den Interaktionen in Ameisenkolonien bisher offenbar übersehen. Auf die Spur der „Puppen-Milch“ kamen die Wissenschaftler zunächst auch nur indirekt im Rahmen von Untersuchungen an einer Modell-Ameisenart: Um Reaktionen auf Isolation zu untersuchen, entfernten sie Individuen in verschiedenen Entwicklungsstadien aus der Kolonie und beobachteten sie einzeln. Zum Hintergrund: Die Insekten durchlaufen während ihres Lebenszyklus eine vollständige Metamorphose. Sie beginnt mit Eiern, aus denen wurmartige Larven schlüpfen, die von Arbeiterinnen betreut und gefüttert werden. Aus diesen „Babys“ entwickeln sich dann voll ausgebildete Ameisen während eines unbeweglichen Puppenstadiums. Bei diesen Puppen fiel Snir im Rahmen der Untersuchungen der Reaktionen auf Isolation etwas Überraschendes auf: Die Forscherin entdeckte Flüssigkeitsansammlungen auf ihren unbeweglichen Körpern.
Wie die Forscher erklären, scheiden Insekten im Puppenstadium normalerweise nichts aus, und auch bei Ameisen war eine solche Flüssigkeit zuvor noch nicht beobachtet worden. Es zeigte sich zudem, dass diese Absonderungen zum Wachstum von problematischen Pilzen führen können: Nur wenn Snir die Flüssigkeit manuell entfernte, überlebten die Puppen bis zum Erwachsenenalter. So lag nahe, dass diese Flüssigkeit normalerweise durch Pflegemaßnahmen in der Kolonie entfernt wird. Dieser Spur gingen die Wissenschaftler anschließend systematisch nach: Sie beobachteten die Interaktion von Arbeiterinnen mit den Puppen. Außerdem führten sie Experimente mit Farbstoffspuren durch, um herauszufinden, wo die Flüssigkeit hingeht. So offenbarte sich schließlich, dass erwachsene Ameisen die Substanz aufnehmen und teilweise an Larven weitergeben. Zusätzlich nehmen die Kleinen sie auch durch direkten Kontakt mit den Puppen auf, ging aus den Beobachtungen hervor.
Im nächsten Schritt, gingen die Forscher dann genauer der Frage nach, was es mit der Flüssigkeit auf sich hat und welche Rolle sie für die Ameisen spielt. Dabei wurde deutlich, dass die Flüssigkeit aus einem bei allen Insekten vorkommenden Prozess im Puppenstadium stammt: Sie entsteht bei den Häutungsprozessen. Während andere Insekten die entstehende Flüssigkeit sofort wieder aufnehmen, um die Nährstoffe zu recyclen, teilen Ameisen-Puppen sie offenbar mit ihren Nestgenossen, geht aus den Ergebnissen hervor. Analysen bestätigten dabei, dass die Häutungsflüssigkeit reich an Nährstoffen sowie an Substanzen wie Hormonen ist, die möglicherweise wichtige Funktionen haben.
Parallelen zur Milch
Dies bestätigten weitere Untersuchungen: Wenn Larven in den ersten vier Lebenstagen die Flüssigkeit nicht erhalten, ist das Wachstum beeinträchtigt und viele sterben. “In den ersten Tagen nach dem Schlüpfen sind die Larven auf diese Substanz angewiesen – offenbar ähnlich wie ein Neugeborenes auf die Milch”, sagt Senior-Autor Daniel Kronauer von der Rockefeller University. “Obwohl nicht klar ist, was die Flüssigkeit bei den erwachsenen Tieren bewirkt, sind wir sicher, dass sie sich auch bei ihnen auf den Stoffwechsel und die Physiologie auswirkt”, so der Wissenschaftler. Wie das Team belegen konnte, handelt sich auch nicht nur um ein Phänomen bei einer einzelnen Art: Die Forscher wiesen das Konzept bei Vertretern aller fünf großen Ameisenunterfamilien nach, was darauf hindeutet, dass es sich um eine grundlegende Strategie handelt. “Sie hat sich wahrscheinlich einmal entwickelt – früh in der Evolution der Ameisen oder sogar zuvor“, sagt Kronauer.
Wie die Forscher betonen, handelt es sich bei der Entdeckung um einen wichtigen Aspekt, der zum Verständnis der komplexen Interaktionssysteme in den „Superorganismen“ der Ameisen beiträgt. “Dies offenbart einen neuen Aspekt der Abhängigkeit zwischen Larven und Puppen sowie Puppen und Erwachsenen”, sagt Snir. “Die soziale Puppenflüssigkeit ist die treibende Kraft hinter einem zentralen und bisher übersehenen Interaktionsnetzwerk in Ameisengesellschaften“, konstatiert die Forscherin. In weiterführenden Untersuchungen plant das Team nun, die Bedeutung der Puppen-Milch für die Ameisenvölker noch genauer zu untersuchen. Unter anderem wollen sie herausfinden, ob die Flüssigkeit eine Rolle bei der Entscheidung über die Entwicklung einer Larve zu einer bestimmten Kaste im Ameisenstaat spielt. “Unser langfristiges Ziel sind immer genauere Einblicke in die Mechanismen, die die soziale Organisation steuern, und wie sich diese Systeme entwickelt haben“, so Snir.
Quelle: The Rockefeller University, Fachartikel: Nature, doi: 10.1038/s41586-022-05480-9