Die Evolution HAT sich schon früh auf den „Text des Lebens” festgelegt: auf die DNA als Trägerin der Erbinformation, auf die Basen Adenin und Thymin, Guanin und Cytosin und ihre paarweise Anordnung. Die Regel, dass jeweils drei Basenpaare den Einbau einer Aminosäure in ein wachsendes Eiweißmolekül codieren, wie ein dreibuchstabiges Wort („Tor”, „Hof”) einen bestimmten Gegenstand bezeichnet, ist ebenfalls von der Natur vorgegeben. Auch in Sachen Stoffwechsel erlaubt sie keine Experimente: Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Schwefel und Phosphor – darauf beruhen alle irdischen Lebensformen. Als im letzten Jahr amerikanische Forscher behaupteten, im Schlamm eines Salzsees in Kalifornien Bakterien gefunden zu haben, die Arsen statt Phosphor verwenden, war dies eine Sensation – bis Zweifel an den Messergebnissen aufkamen. Es wurde wieder still um die angeblichen „Alien-Bakterien”.
Doch was in der Natur nicht geht, findet jetzt im Labor statt. Der Mikrobiologe Rupert Mutzel von der Freien Universität Berlin und der französische Biologe Philippe Marlière, Gründer mehrerer Biotech-Unternehmen, haben einen Stamm des Bakteriums Escherichia coli dazu gebracht, das Thymin in seiner Erbsubstanz durch das in der Natur nicht vorkommende 5-Chlor-Uracil zu ersetzen.
„Irdische Außerirdische” nennt Marlière die mutierten Bakterien. Noch ist das Grundlagenforschung. Doch wenn es nach Mutzel und Marlière geht, ist es auch ein erster Schritt in eine neue biologische Welt, ein Keim für einen oder vielleicht viele neue Bäume des Lebens – mit Kreaturen, die sich grundlegend von allen Lebewesen unterscheiden, die je auf der Erde gelebt haben.
Alternative zur GENTECHNIK
Weltweit arbeiten Forscher mit Hochdruck daran, Mikroorganismen umzuprogrammieren, damit sie statt ihrer natürlichen Stoffwechselprodukte Öl oder Antibiotika herstellen, verseuchte Böden reinigen oder Produktionsprozesse in der chemischen Industrie oder der Lebensmittelindustrie effizienter machen. Bei Erfolg winkt ein riesiger Markt. Das Mittel der Wahl ist dabei zumeist die Gentechnik: Gene werden verändert, neu zusammengesetzt, mit Genen anderer Organismen kombiniert. Stoffwechselwege werden manipuliert, bis die Zelle nicht mehr produziert, was sie selbst braucht, sondern was der Mensch haben möchte.
„Gen-Manipulation klappt ganz gut, solange man eine Vorstellung davon hat, wie das von einem Gen codierte einzelne Molekül aufgebaut ist und funktioniert”, erklärt Rupert Mutzel. Ohne eine solche Vorstellung ist es schwierig. Denn um ein Protein zu verbessern, müsste man alle möglichen Kombinationen seiner zahlreichen Aminosäuren durchtesten. Da entstünden schnell mehr Varianten, als das Universum Atome hat. „So gibt es nur Zufallstreffer”, erklärt Mutzel.
Deshalb lassen er und Marlière lieber die Evolution die Arbeit machen. „Sicherheitsstufe 1 – Kein Zutritt für Unbefugte” steht groß an einer Stahltür im Berliner Institut für Mikrobiologie. Doch auch wenn das Unterfangen ein wenig unheimlich klingt, Angst braucht man hier nicht zu haben. „Sicherheitsstufe 1 heißt: ‚ Keine Gefahr für Umwelt und Gesundheit‘ “, erklärt Mutzel lachend und macht Licht. In dem fensterlosen Raum steht eine Apparatur aus zwei Glasgefäßen, die an einer senkrechten Platte befestigt und über ein Gewirr aus kleinen transparenten Schläuchen miteinander verbunden sind – mit Zulauf und Überlauf, Motor und Steuereinheit. In dem einen Gefäß blubbert eine leicht trübe Flüssigkeit, das andere ist leer. „Das ist eine Evolutionsmaschine”, sagt Mutzel. Die „irdischen Außerirdischen” entstanden in einer solchen Apparatur in Marlières Labor bei Paris. In der Berliner Evolutionsmaschine trainieren Coli-Bakterien gerade Salztoleranz: Die Forscher bauen einen Selektionsdruck auf, indem sie dem Wildstamm Salz zusetzen. Dann warten sie, ob sich die Organismen daran gewöhnen.
EIN VIERTEL WAR UMGEDREHT
Im Kulturgefäß findet der gleiche Prozess statt wie in der Natur: Die Organismen, die besser mit dem Salz zurechtkommen, vermehren sich schneller und verdrängen die anderen. Wächst die Population nicht recht weiter, wird die Salzzufuhr vermindert. Hat sie sich erholt, wird sie erhöht – so lange, bis die gewünschte Toleranz erreicht ist.Wie die Organismen das machen, braucht die Forscher nicht zu kümmern.
Als sich die französischen Coli-Bakterien mit dem eigentlich giftigen 5-Chlor-Uracil arrangiert hatten, zeigten ihre Genome über 1500 Punktmutationen: Veränderungen, die nur eine einzelne Base betreffen. Ein Viertel des Genoms war umgedreht, so als müsse man einen bekannten Text jetzt von hinten lesen. Und es gab unterschiedlich große Bereiche, in denen Gene ganz verloren gegangen waren. „Wir haben keine Ahnung, welche von diesen genetischen Veränderungen adaptiv waren”, sagt Mutzel. Denn neben nützlichen Veränderungen bringt die Evolution stets auch neutrale und schädliche hervor.
„Experimentelle Evolution” heißt die Methode, Organismen über viele Generationen unter kontrollierten Bedingungen im Labor zu züchten und dabei ihre Lebensbedingungen gezielt zu verändern, um zu sehen, wie sie sich an die neuen Gegebenheiten anpassen. Meist verwenden die Forscher dazu Bakterien: Sie vermehren sich schnell und sind leicht zu kultivieren. Der Biologe Richard Lenski von der Michigan State University begann 1988, Coli-Bakterien zu züchten – Generation um Generation. Inzwischen steht der Generationenzähler auf seiner Homepage bei über 56 000.
NEUSTART JEDERZEIT MÖGLICH
Mit experimenteller Evolution können Forscher die Evolution in Aktion beobachten. Sie können die Entstehung neuer Arten ebenso verfolgen wie die Entwicklung von Räuber-Beute-Beziehungen oder Gewinner- und Verliererstrategien. Dabei können sie jederzeit genetische oder statistische Analysen durchführen und Proben einfrieren, um Organismen später mit ihren Vorfahren zu konfrontieren. Und sie können den Evolutionsprozess wieder und wieder neu starten, um zu sehen, ob er unter den gleichen Bedingungen denselben Weg nimmt. Diese Eigenschaften machen die experimentelle Evolution zu einem wichtigen Mittel, um Annahmen über die Evolution von Lebewesen zu testen. „Die experimentelle Evolution macht die Evolutionsforschung erst zu einer echten Wissenschaft”, schwärmt der Biologe Theodore Garland von der University of California.
Musste sich das Leben auf der Erde genau so entwickeln, wie wir es kennen? Sind beispielsweise Arsen-Bakterien doch möglich? Wie entstanden mehrzellige Organismen? Diese Fragen können Biologen jetzt angehen. Auch zu der ewigen Frage, wozu Sex gut ist (bild der wissenschaft 11/2011, „Warum Sex?”), erhoffen sich die Forscher neue Erkenntnisse. „Wir denken immer, die Natur hat schon alles ausprobiert. Das hat sie aber gar nicht”, sagt Mutzel. Die natürliche Selektion ist nämlich eine Evolutionsbremse. Wenn einem Organismus etwas elegantes Neues „ einfällt”, er damit aber seine Generationszeit verlängert – also erst in einem höheren Alter Nachkommen bekommt –, wird er von der schnelleren Konkurrenz erdrückt. Zahlreiche vielleicht revolutionäre Mutationen haben in der Natur nie eine Chance – in der Evolutionsmaschine können sie zeigen, wozu sie in der Lage sind. Der Evolutionsbiologe Graham Bell von der McGill University in Montreal brachte mit experimenteller Evolution sogar die Photosynthese nutzende Alge Chlamydomonas dazu, im Dunkeln zu wachsen.
ein paar gene ausgeschaltet
Bis hierhin ist die experimentelle Evolution eine raffinierte Variante der klassischen Tier- und Pflanzenzucht. Eine neue Dimension bekommt sie, wenn sie mit gentechnischen Verfahren kombiniert wird. Auch bei den 5-Chlor-Uracil-Bakterien ging es nicht ganz ohne: „Wenn wir nicht zuerst ein paar Gene ausgeschaltet hätten, hätte das Bakterium einen Weg gefunden, Thymin herzustellen und sich wenig um das 5- Chlor-Uracil geschert”, so Mutzel. Und selbst als der Kultur nur noch 5-Chlor-Uracil statt Thymin zugesetzt wurde, mussten die Forscher feststellen, dass das Erbgut der Bakterien immer noch 10 Prozent Thymin enthielt. Nach langem Suchen fanden sie heraus, dass es in der Zelle ein Enzym gibt, mit dem diese Thymin aus einem anderen Molekül „recyceln” kann. Also musste auch dieser Weg gentechnisch blockiert werden.
Doch reinrassig sind die Aliens in der Evolutionsmaschine immer noch nicht. „Jetzt sind wir bei 1,5 Prozent”, sagt Mutzel. „ Es gibt nämlich noch fünf, sechs andere Wege für die Zelle, Thymin herzustellen. So ist die Natur eben.” In der Evolutionsmaschine lassen sich alle Eigenschaften herauszüchten, die mit dem Wachstum des Organismus vereinbar sind. Grenzen sieht Mutzel erst in weiter Ferne: Ein Stoffwechsel ohne flüssiges Wasser sei wohl nicht möglich.
STAMMZELLEN UNERWÜNSCHT
Theoretisch könnten auch menschliche Stammzellen in der Evolutionsmaschine wachsen. Theoretisch. „Alle fragen mich nach den Stammzellen”, stöhnt Mutzel. Dabei sind sie für experimentell arbeitende Evolutionsbiologen kaum attraktiv. Denn die Anpassungsprozesse verlaufen bei Zellen, in denen die Erbsubstanz – anders als bei Bakterien – in einem Zellkern liegt, viel langsamer als bei Bakterienzellen: Sie haben eine deutlich längere Generationszeit und können nur in viel geringerer Dichte gehalten werden. Die Selektion hat deshalb viel weniger Varianten zum Ausprobieren. Außerdem gibt es bislang noch keine Regeln zum Umgang mit menschlichen Stammzellen im Labor. Mutzel kommen Stammzellen jedenfalls nicht in die Evolutionsmaschine: „Da sollten wir gar nicht drangehen.”
Die veränderten Mikroorganismen könnten die Welt sicherer machen. Bereits heute lässt sich verhindern, dass sich genetisch veränderte Organismen in der Umwelt verbreiten: Forscher schalten beispielsweise in einer Zelle Bestandteile aus, die diese in der Natur zum Überleben brauchen würde. Nun ergibt sich eine weitere Möglichkeit: Würden die Experimente mit Organismen gemacht, die eine andere genetische Sprache sprechen, fänden sie wie hinter einem genetischen Schutzwall statt. Denn solche Organismen könnten sich mit anderen nicht austauschen und ihre Gene nicht verbreiten. Hier gilt: Je fremder, desto besser.
Nur ein Gartenzäunchen
Thymin durch 5-Chlor-Uracil zu ersetzen, ist allerdings bestenfalls ein Gartenzäunchen und keine richtige Barriere: Kommt das Bakterium an Thymin heran, stellt es seinen Stoffwechsel ganz schnell wieder um. „Ein kluges, elegantes Experiment, aber erst der Anfang”, sagt Markus Schmidt, Experte für Technikfolgenabschätzung auf dem Gebiet der Biotechnologien in Wien. Ideal für die Biosicherheit wäre seiner Ansicht nach ein komplett synthetisch aufgebauter Organismus. Die Disziplin, die sich mit dessen Herstellung befassen soll, hat schon einen Namen: Xenobiologie, von griechisch „xenos”, „fremd”. Doch dies sind Pläne für eine ferne Zukunft. Der amerikanische Gentechnik-Pionier Craig Venter hat es mit viel Geld und Aufwand fertiggebracht, ein natürliches Genom nachzubauen und in eine bestehende Zelle einzusetzen. Ein Genom komplett neu zu entwerfen und auch noch in eine künstlich hergestellte Zelle einzubauen, ist eine ganz andere Sache. „Dazu müsste man die Evolution der vergangenen vier Milliarden Jahre am Computer nachvollziehen”, erklärt Alfred Pühler vom Zentrum für Biotechnologie der Universität Bielefeld. „Das ist zurzeit nicht machbar und nicht einmal absehbar.”
In der Berliner Evolutionsmaschine tun die Coli-Bakterien derweil, was sie immer und überall tun: Sie versuchen, so gut wie möglich und besser als ihre Nachbarn mit dem zurechtzukommen, was sie haben – konkret: was Mutzel und seine Mitarbeiter ihnen servieren. Auf diese Kräfte der Evolution können die Forscher auch in einer parallelen biologischen Welt nicht verzichten. ■
MANUELA LENZEN hat in Philosophie promoviert. Als Wissenschaftsjournalistin befasst sie sich mit Kognition und Evolution. NORBERT MICHALKE und die Forscher hatten Spaß beim Fototermin.
Manuela Lenzen (Text), Norbert Michalke (Fotos)
Kompakt
· Experimentelle Evolution beflügelt die Grundlagenforschung.
· Und sie ermöglicht eine gezielte Züchtung ohne Gentechnik.
· Was noch nicht geht: Ein künstliches Genom zu Leben erwecken.
LESEN
Theodore Garland, Michael R. Rose (Hrsg.) Experimental Evolution Concepts, Methods, and Applications of Selection Experiments University of California Press, Berkeley 2009, ca. € 64,–
Richard Lenski Evolution in Action. A 50.000- generation salute to Charles Darwin In: Microbe, 2011, Band 8, Nr. 1, S. 30–3 3
Philippe Marlière The farther, the safer: a manifesto for securely navigating synthetic species away from the old living world In: Systems and Synthetic Biology, 2009, Band 3, S. 77–8 4
Philippe Marlière, Rupert Mutzel et al. Chemical Evolution of a Bacterium’s Genome In: Angewandte Chemie Int. Ed., 2011, Band 123, S. 7109–7114
Markus Schmidt Xenobiology: A new form of life as the ultimate safety tool In: Bio Essays, 2010, Band 32, S. 322–331
Experimentelle Evolution anno Darwin
Charles Darwin (1809 bis 1882) glaubte, nur die Zuchtwahl durch den Menschen – etwa für neue Haustier-Rassen – beobachten zu können, nicht aber die natürliche Evolution, weil die sich zu langsam vollzöge. Doch schon zu seinen Lebzeiten wurde er widerlegt – von Reverend William Henry Dallinger (1839 bis 1909), der zugleich Priester der englischen Methodistischen Kirche und Präsident der Royal Microscopic Society war. Er untersuchte als einer der Ersten den Lebenszyklus einzelliger Organismen unter dem Mikroskop. Und er baute eine trickreiche Apparatur, in der er einzellige Organismen in einem Wasserbad hitzetolerant züchtete. Am Ende des Experiments lebten sie in einer 70 Grad Celsius heißen Nährlösung. Darwin fand die Resultate, über die Dallinger ihn unterrichtete, „extrem interessant”.
Evolution von Bier und Käse
Gentechnisch veränderte Lebensmittel sind für die meisten Verbraucher ein rotes Tuch. „Das ist kein gutes Marketingmerkmal” , sagt Jens Baumgardt, einer der Geschäftsführer der Firma Durakult, einer Ausgründung des Instituts für Mikrobiologie an der Freien Universität Berlin. Das Unternehmen bietet optimierte Mikroorganismen für industrielle Produktionsprozesse an: Hefen oder Bakterien etwa, die hohe Konzentrationen an Salz oder Säuren tolerieren. Auf seiner Homepage prangt groß das Logo „Ohne Gentechnik”. Ähnlich wie Philippe Marlière und Rupert Mutzel (siehe Haupttext) bringen Baumgardt und seine Kollegin Claudia Keil-Dieckmann die Gene dazu, sich selbst zu verändern. Sie lassen die Hefen und Bakterien wie in der Natur zusammenhängende Biofilme bilden, die wachsen dürfen, allerdings unter kontrollierten Bedingungen. Ein Biofilm hat den Vorteil, dass Milliarden von Zellen dicht an dicht nebeneinander sitzen. Verschlechtern sich die Umweltbedingungen, tauschen die Zellen ihr genetisches Material verstärkt untereinander aus, bis per Zufall eine sinnvolle genetische Antwort entstanden ist, die das weitere Überleben ermöglicht. Gelingt es so, die Umweltbedingungen einer Bierhefe oder einer Joghurt-Kultur gezielt zu simulieren, ist es sehr wahrscheinlich, dass auf diesem Wege auch wirtschaftlich interessante Eigenschaften entstehen.
Genau diesen Ansatz verfolgt Durakult: Der Kunde bringt die Organismen mit, die er optimiert haben möchte – etwa eine Hefe, die für ein Starkbier mehr Alkohol verträgt. Baumgardt und Keil-Dieckmann sperren sie in eine Apparatur, die entfernt einem Hightech-Hamsterrad ähnelt, und setzen sie gezielt unter Stress. Wenn der Mikroorganismus die erwarteten Leistungen stabil erbringt, wird er an den Kunden zurückgegeben.
Aus manchen Endprodukten werden die veränderten Organismen herausgereinigt, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben, in anderen, etwa in Bier oder Käse, bleiben sie in inaktiver Form enthalten und werden mitverzehrt. „Alle Mikroorganismen und alle anderen Pflanzen und Tiere, die wir heute als Nahrung nutzen, sind Resultate gezielter Züchtung, ohne dass dabei Probleme auftraten” , beruhigt Baumgardt. „Zudem ist das Unternehmen, das die Produkte abnimmt, gesetzlich verpflichtet, die Mikroorganismen zu prüfen, bevor es sie in den Verkehr bringt.”