Wie hat sich die Biodiversität in marinen Ökosystemen im Verlauf der letzten Jahrzehnte entwickelt? Einblicke in diese Frage kann die Analyse von Umwelt-DNA aus archiviertem Muschel-Gewebe gewähren, berichten Forscher: Durch die Auswertung der von den Filtrierern aufgesammelten Erbgut-Spuren anderer Organismen lässt sich der Wandel einer Lebenswelt rekonstruieren. Darin kann sich auch die Ausbreitungsgeschichte von invasiven Arten widerspiegeln. Dies verdeutlichen die Wissenschaftler am Beispiel einer australischen Seepocken-Art an der deutschen Nordseeküste.
Mit “Forensik” Lebewesen auf der Spur – in die Biodiversitäts-Forschung hat in den letzten Jahren ein neues Verfahren Einzug gehalten: In Proben der Umwelt lassen sich Erbgut-Spuren nachweisen, die sich bestimmten Ursprungsorganismen zuordnen lassen. Diese sogenannte Umwelt-DNA stammt aus losgelöstem Zellmaterial, das auf Oberflächen landet oder in die Luft oder das Wasser gelangt. Moderne Verfahren der Genetik können diese Spuren nun immer effektiver erfassen. Sofern es Referenzdaten gibt, können die ermittelten Sequenzabschnitte dann bekannten Arten zugeordnet werden. Dieses Verfahren kann dazu dienen, die Artenvielfalt auszuloten oder auch um eine bestimmte Spezies in einem Lebensraum nachzuweisen.
Probematerial aus 40 Jahren
Durch die Untersuchung von Umwelt-DNA in Wasserproben können Forscher bereits Einblicke in die Biodiversität von aquatischen Ökosystemen gewinnen. Doch dabei zeichnet sich nur der momentane Zustand der Besiedlung durch die verschiedenen Lebewesen ab. Ein Forscherteam der Universität Trier kam nun auf die Idee, dass vielleicht spezielles Archivmaterial langfristigere Beobachtungen ermöglichen könnte: An der Universität werden Proben von Miesmuscheln gefroren gelagert, die seit 40 Jahren für das Monitoring von Umweltverschmutzungen an deutschen Küsten gesammelt wurden.
So ging das Team der Frage nach, inwieweit in dem Archivmaterial enthaltene Umwelt-DNA Einblicke in die Organismen der Lebenswelt der Muscheln zum Zeitpunkt der Probenahme gewähren kann. Die Chancen erschienen dabei vielversprechend. Denn Miesmuscheln filtrieren mehr als einen Liter Meerwasser pro Stunde und reichern dabei organische Substanz in ihrem Verdauungstrakt an – vermutlich inklusive Umwelt-DNA. Genau dies bestätigen die Untersuchungen: Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass die Muscheln tatsächlich voller Erbgut-Spuren der Organismen in ihrem Umfeld stecken. „Durch die Sequenzierung der erhaltenen DNA konnten wir die unterschiedlichen Muschel-assoziierten Lebenswelten schließlich auch charakterisieren“, schreibt das Team.
Wie der Klimawandel die Biodiversität beeinflusst
Durch das Archivmaterial aus den vergangenen 40 Jahren konnten die Forschenden dann auch langfristige Veränderungen in der Artenvielfalt aufzeigen. „Mit unserer Untersuchung konnten wir dabei auf eine wichtige ökologische Folge des Klimawandels für die Biodiversität hinweisen: Die allmählich immer wärmer werdenden Winter ebnen wärmeliebenden Bioinvasoren den Weg, sich zu vermehren und einheimische Populationen zu verdrängen“, sagt Erst-Autorin Isabelle Junk von der Universität Trier. Konkret konnten das Team dies im Fall der Australischen Seepocke aufzeigen. Diese aus dem globalen Süden stammende Krebstierart war während des Zweiten Weltkriegs nach Europa eingeschleppt worden, siedelte sich an europäischen Küsten an und verdrängte dann dort einheimische Arten.
Die Langzeitdaten aus den Muscheln konnten nun starke Schwankungen beim Bestand der invasiven Art an der deutschen Nordseeküste aufzeigen, die mit den Temperaturverläufen korrelierten. In kalten Wintern schrumpften die Populationen der Australischen Seepocke demnach massiv. Davon konnte sich die Population teils erst nach mehreren Jahren wieder erholen. In den Warmzeiten konnten die Invasoren dann allerdings die einheimischen Seepocken fast vollständig verdrängen, spiegelte sich in den Muschel-Daten wider. Wie das Team betont, handelt es sich bei dem Fall um ein Beispiel unter vielen: Die Australische Seepocke ist eine von zahlreichen weiteren invasiven Meerestieren, die sich im Zuge menschlicher Aktivitäten in neuen Regionen ausbreiten können und dabei die Ökosysteme bedrohen.
Die Ausbreitung dieser Invasoren läuft oft unbemerkt ab und die Folgen und Einflussgrößen bleiben unklar. „Bislang verfügbare Zeitreihen sind oft kurz oder unvollständig und lassen keine verlässlichen Aussagen darüber zu, ob es sich bei Veränderungen in der biologischen Vielfalt um kurzfristige Populationsschwankungen oder langfristige Trends handelt“, sagt Senior-Autor Henrik Krehenwinkel von der Universität Trier. „Dieser Nachweis könnte nun durch die Analyse von Umwelt-DNA aus langzeitarchivierten Umweltproben geführt werden“, so der Wissenschaftler.
Quelle: Universität Trier, Fachartikel: Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2023.07.035