Der Spiegeltest gilt als klassischer Indikator für Selbsterkenntnis: Erkennt ein Tier, dass sein Spiegelbild nicht etwa ein Artgenosse ist, sondern es selbst? Bisher haben nur wenige Tierarten diesen Test bestanden, darunter Menschenaffen, Delfine und Raben. Eine neue Studie zeigt nun, dass auch Mäuse unter bestimmten Bedingungen dazu in der Lage sind. Zudem gelang es den Forschenden, im Gehirn der Mäuse zu identifizieren, welche Neuronen an der Selbsterkennung beteiligt sind.
Sehen Tiere sich selbst im Spiegel, gehen sie meist davon aus, einem Artgenossen gegenüberzustehen. Nur wenige Tiere sind in der Lage, sich selbst im Spiegel zu erkennen. Um diese Fähigkeit zu prüfen, haben Forschende Anfang der 1970er Jahre den sogenannten Spiegeltest entwickelt. Dabei wird einem Individuum unbemerkt ein farbiger Punkt ins Gesicht gemalt, den es nur im Spiegel sehen kann. Versucht es nach Anblick des eigenen Spiegelbildes, den Punkt bei sich selbst näher zu untersuchen oder zu entfernen, gilt dies als Zeichen der Selbsterkenntnis. Kleinkinder bestehen den Test ab etwa zwei Jahren. Auch Menschenaffen, Delfine, Elefanten und einige Rabenvögel sind dazu in der Lage. Hunden, Katzen, Schweinen und den meisten anderen Tieren fehlt dagegen diese Fähigkeit zur Selbsterkenntnis.
Farbklekse im Mäusegesicht
Ein Team um Jun Yokose von der University of Texas in Dallas hat nun den Spiegeltest erfolgreich mit Mäusen durchgeführt. Dazu malten die Forschenden einen weißen Fleck auf die Stirn schwarzer Mäuse und gaben ihnen dann die Möglichkeit, sich im Spiegel zu betrachten. Tatsächlich verbrachten die Tiere, die sich im Spiegel sahen, mehr Zeit damit, sich am Kopf zu putzen, um die Farbe wieder zu entfernen. Das galt allerdings nur, wenn der weiße Fleck relativ groß war, die Mäuse also die Farbe nicht nur im Spiegel sehen, sondern auch auf ihrem Fell spüren konnten.
Um auszuschließen, dass vor allem der taktile Reiz das Putzverhalten auslöste, führten die Forschenden das gleiche Experiment mit schwarzer Farbe durch, die auf dem Fell der Mäuse kaum sichtbar war. Obwohl sich diese Farbe genauso anfühlte wie die weiße, zeigten die auf diese Weise bemalten Mäuse kein erhöhtes Putzverhalten. Malten die Forschenden dagegen auf einen großen Kleks schwarzer Farbe einen kleinen weißen Punkt, putzten sich die Mäuse nach Anblick ihres Spiegelbildes ähnlich viel, wie wenn sie einen großen weißen Farbkleks auf dem Kopf hatten. „Die Mäuse benötigten erhebliche externe sensorische Hinweise, um den Spiegeltest zu bestehen“, sagt Yokose. „Wir müssen eine Menge Farbe auf ihre Köpfe auftragen und dann ermöglicht es der taktile Reiz den Tieren, die Farbe auf ihren Köpfen im Spiegel visuell zuzuordnen.“
Soziale Erfahrung als Grundlage
Zusätzlich zur Größe der Markierung müssen der Studie zufolge auch weitere Voraussetzungen erfüllt sein, damit Mäuse den Spiegeltest bestehen. Nur Tiere, die bereits vor dem Test Gelegenheit hatten, Spiegel kennenzulernen, waren in der Lage, ihr eigenes Aussehen im Spiegel zu kontrollieren. Zudem sind offenbar auch soziale Kontakte wichtig. Tiere, die von klein auf isoliert aufgezogen wurden und keine Artgenossen zu Gesicht bekamen, zeigten keine Anzeichen von Selbsterkenntnis im Spiegeltest. Das gleiche galt, wenn alle Käfiggenossen der getesteten Maus anders aussahen als sie selbst, also beispielsweise eine schwarze Maus unter weißen Mäusen aufgezogen wurde. „Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das visuelle Selbstbild bei Mäusen durch soziale Erfahrung und Gewöhnung an den Spiegel entwickelt werden kann“, folgert das Team.
Zusätzlich untersuchten die Forschenden, welche Bereiche im Gehirn der Mäuse an der Selbsterkennung beteiligt sind. Dabei stießen sie auf eine Untergruppe von Neuronen im ventralen Hippocampus, die aktiviert wurde, wenn sich die Mäuse im Spiegel erkannten. „Frühere Studien am Menschen legen nahe, dass diese Region eine Rolle bei der Verarbeitung und Speicherung visueller Merkmale des Selbst spielt“, erklären die Forschenden. Um herauszufinden, ob diese Neuronen wirklich für die Selbsterkennung der Mäuse essentiell sind, verabreichte das Team einigen Mäusen Medikamente, die diese Neuronen abschalteten. Und tatsächlich: Waren die entsprechenden Neuronen deaktiviert, waren die Tiere nicht mehr in der Lage, sich selbst im Spiegel zu erkennen.
Neuronen für die Selbsterkennung
Weitere Tests ergaben, dass die für die Selbsterkennung benötigten Neuronen auch in bestimmten sozialen Situationen beteiligt sind: „Eine Untergruppe dieser Neuronen wurde auch aktiviert, wenn die Mäuse anderen Individuen desselben Stammes begegneten“, berichtet Yokoses Kollege Takashi Kitamura. „Dies deckt sich mit früheren Untersuchungen beim Menschen, die zeigten, dass einige Hippocampuszellen nicht nur feuern, wenn eine Person sich selbst betrachtet, sondern auch, wenn sie vertraute Personen wie ein Elternteil ansieht.“
In weiteren Studien wollen die Forschenden genauer untersuchen, welche Bedeutung die visuellen und taktilen Reize für die Selbsterkennung der Mäuse haben und welche zusätzlichen Hirnregionen womöglich an der Erkennung beteiligt sind. „Jetzt, da wir dieses Mausmodell haben, können wir die neuronale Aktivität manipulieren oder überwachen, um die neuronalen Schaltkreismechanismen, die hinter der Auslösung von selbsterkennungsähnlichem Verhalten bei Mäusen stehen, umfassend zu untersuchen“, sagt Yokose.
Quelle: Jun Yokose (University of Texas Southwestern Medical Center, Dallas) et al., Neuron, doi: 10.1016/j.neuron.2023.10.022