Sie bilden eine Art Lasso und schieben sich dann Stück für Stück nach oben: Bei der berüchtigten Braunen Nachtbaumnatter haben Forscher eine bisher unbekannte Art der Schlangenfortbewegung entdeckt. Durch diese Methode können die invasiven Reptilien sogar dicke, glatte Metallmasten erklimmen. Dies erklärt, wie die Nachtbaumnattern auf der Insel Guam die Nester bedrohter Vögel erreichen sowie für gelegentliche Stromausfälle sorgen, berichten die Wissenschaftler.
Ohne Beine sind sie besonders erfolgreich unterwegs: Der Körperbau der Schlangen avancierte in der Evolutionsgeschichte zu einem ausgesprochenen Renner. Der Verlust der Gliedmaßen ermöglichte eine hohe Anpassungsfähigkeit bei der Fortbewegung. So konnten sich die Reptilien viele unterschiedliche Lebensräume der Erde erobern: Einige Arten schlängeln sich durch Erdlöcher, andere sausen über den Erdboden oder gleiten geschmeidig durchs Wasser. Viele tropische Arten haben außerdem ein ausgesprochenes Klettertalent entwickelt, durch das sie sich bis in die höchsten Baumkronen winden können. Für diese Kletterfähigkeiten ist besonders die Braune Nachtbaumnatter (Boiga irregularis) berühmt-berüchtigt.
Invasive Kletterkünstlerin
Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet dieser bis zu drei Meter langen Schlange ist Nordaustralien und die nördlich davon gelegene Inselwelt. Doch der Mensch hat die Kletterkünstlerin auch auf entfernte Inseln im Pazifik verschleppt. Vor allem auf Guam breitete sie sich seit den1940er Jahren stark aus und verursachte vor allem unter den einheimischen Vogelarten verheerende Verluste. Durch ein Schutzprojekt versuchen US-Wissenschaftler derzeit wenigstens noch die letzten Mikronesien-Stare Guams zu retten. Sie unterstützen die Vögel dabei durch die Bereitstellung von Nistkästen, die an Masten anbracht sind. An den schlanken Stangen können sich die Nachtbaumnattern allerdings heraufwinden. Um sie von der Plünderung der Brutkästen abzuhalten, brachten die Forscher deshalb zunächst ofenrohrartige Schutzkappen aus Metall an den Enden der Masten an. Vor dem Hintergrund der bisher bekannten Klettertechniken bei Schlangen gingen sie davon aus, dass die Nachtbaumnattern nicht in der Lage sein würden, diese breiten und glatten Strukturen zu überwinden.
Doch wie geplünderte Nester zeigten, war das ein Irrtum. Um herauszufinden, wie die nachtaktiven Reptilien das Hindernis bewältigten, werteten die Forscher daraufhin die Aufnahmen von Überwachungskameras aus. “Wir hatten uns etwa vier Stunden Videomaterial angesehen, als plötzlich eine Schlange erschien, die so etwas wie ein Lasso um den breiten Schutzzylinder bildete“, berichtet Co-Autor Thomas Seibert von der Colorado State University in Fort Collins. „Das Tier schob dann seinen Körper langsam an der glatten Oberfläche nach oben. Fassungslos haben wir uns diesen Teil des Videos ungefähr 15 Mal angesehen. Kein Schlangenverhalten, das ich je gesehen hatte, war damit vergleichbar”, so der Biologe.
Unbekannte Klettertechnik
Wie die Forscher erklären, erklimmen Schlangen steile, breite und glatte Äste oder Rohre normalerweise mithilfe einer Art Ziehharmonika-Methode, wobei sie sich seitlich biegen, um an bestimmten Stellen einen Kontaktpunkt zu entwickeln. Aber das nun beobachtete Verfahren unterscheidet sich von diesen Techniken deutlich. Dies konnten die Wissenschaftler durch Kletterexperimente mit Versuchsschlangen genau dokumentieren. Die Analysen von hochauflösenden Videos zeigten dabei, wie die Schlangen bei der Lasso-Technik aus ihrem Körper eine Schlaufe bilden, die einen einzigen umfassenden Kontaktbereich um das zylindrische Objekt ermöglicht. Die Tiere bringen dann durch wellenartige Bewegungen stetig kleine nach oben gerichtete Ausbuchtungen aus dem Lasso hervor, an denen sie sich langsam hinaufziehen.
Offenbar handelt es sich um ein Verfahren, das die Tiere wohl nur einsetzen, wenn es sich wirklich lohnt, denn es scheint sehr anstrengend zu sein: Bei der Fortbewegung mit dem Lasso beobachteten die Wissenschaftler, dass die Schlangen oft Pausen machten und schwer atmeten. “Obwohl sie mit diesem Modus klettern können, stößt ihre Leistungsfähigkeit dabei wohl an die Grenzen”, sagt Co-Autor Bruce Jayne von der University of Cincinnati. Hervorgebracht haben die Nachtbaumnattern diese Technik wahrscheinlich, um auch die Stämme mancher Baumarten mit besonders glatter Rinde erklimmen zu können. Die Beobachtungen erklären nun auch, wie diese Schlangen auf Strommasten gelangen und dadurch gelegentlich für Stromausfälle auf der Insel Guam sorgen, sagen die Forscher.
Sie wollen nun auch die Grenzen der Bewegungsfähigkeit anderer Schlangenarten testen, um mehr über die Leistungsfähigkeit dieser erstaunlichen Reptilien zu lernen. Was den Schutz der bedrohten Vogelarten auf Guam betrifft, können die Ergebnisse nun dazu dienen, Schutzvorrichtungen zu entwickeln, denen die invasiven Kletterkünstlerinnen nicht gewachsen sind, sagen die Wissenschaftler. “Zu verstehen, was die Schlangen überwinden können und was nicht, hat direkte Auswirkungen auf die Gestaltung von Barrieren, um die Ausbreitung und einige der schädlichen Auswirkungen dieser hochgradig invasiven Art zu reduzieren”, sagt Jayne abschließend.
Quelle: Colorado State University, Fachartikel: Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2020.11.050
Video: Eine Braune Nachtbaumnatter erklimmt einen glatten Mast durch die Lasso-Methode. (Credit: Thomas Seibert)