Als sie gerade ihre Jungtiere zur Welt brachte, wurde die kleine Landschnecke von einem Tropfen Baumharz erfasst und samt Nachwuchs über Millionen Jahre hin konserviert. Forscher berichten über einen 99 Millionen Jahre alten Bernstein, der das Haus sowie die Weichteile einer Schnecke samt ihres gerade geborenen Nachwuchses konserviert hat. Die zu Stein erstarrte Szene dokumentiert damit, dass auch schon in der Kreidezeit einige Landschnecken lebendgebärend waren, sagen die Wissenschaftler.
Manche Bernsteine sind paläontologische Juwelen: Das versteinerte Baumharz hat Wissenschaftlern bereits viele interessante Einblicke in die Entwicklungsgeschichte des Lebens ermöglicht. Das besondere ist dabei, dass Harz auch empfindliche Lebewesen und filigrane Strukturen teils erstaunlich detailliert konservieren kann: Insekten, Pilze, Federn, Weichteile und viele andere Spuren einstiger Lebewesen haben Wissenschaftler in den letzten Jahren in Bernsteinen schon entdeckt. Da die Tiere meist überraschend vom Baumharz erfasst und aus dem Leben gerissen wurden, haben sich in manchen Fällen auch Szenen erhalten, die Rückschlüsse auf Fähigkeiten und Verhaltensweisen ermöglichen.
Schnecke mit frischgeborenen Babys
Dies ist nun auch bei dem Bernstein der Fall, über den die Forscher um Adrienne Jochum vom Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum und dem Naturhistorischen Museum in Bern berichten. Er stammt aus einer Bernstein-Mine im nördlichen Myanmar, wo sich vor 99 Millionen Jahren ein üppiger Tropenwald befand, in dem es offenbar neben den Dinosauriern intensiv kreuchte und fleuchte. Wie recht deutlich zu erkennen ist, enthält der Bernstein ein etwa elf Millimeter langes Schneckenhaus in Schraubenform. Die Forscher hofften, dass sich auch Weichteile des Tieres erhalten haben, und so untersuchten sie das Fossil mittels hochauflösender Fotografie und Mikro-Computertomographie-Aufnahmen.
Dabei entdeckten sie die weichen Körperstrukturen der Schnecke sowie Spuren von Schleim. „Unser neuer Bernstein-Fund ist allein schon aus diesem Grund bemerkenswert“, erklärt Jochum. Doch es gab noch mehr zu entdecken: „Neben dem Körper und der Schale der Landschnecke fanden wir fünf frisch geborene Jungtiere der offenbar weiblichen Schnecke.“ Die Aufnahmen zeigen die winzigen Körper sowie die noch durchsichtigen Strukturen ihrer zarten Häuschen. „Das Ensemble wurde anscheinend direkt nach der Geburt von dem Baumharz eingeschlossen und in dieser Position über die Jahrmillionen konserviert“, sagt Jochum. Die Mutterschnecke streckte ihre Fühler in die Höhe, als sie vom Harz umschlossen wurde, zeigen die Aufnahmen. Vermutlich hat sie ihr bevorstehendes Schicksal bemerkt und war deshalb hochaktiv, erklärt die Wissenschaftlerin.
Schon in der Kreidezeit lebendgebärend
Es handelt sich bei der Schnecke um eine bislang unbekannte Art – doch vor allem repräsentiert die Entdeckung nun den ältesten Nachweis einer Lebendgeburt bei Landschnecken, sagen die Wissenschaftler. „Aufgrund des Fundes können wir nicht nur Aussagen zur Morphologie und Paläoökologie treffen, sondern wissen nun auch, dass es lebendgebärende Schnecken in der Kreidezeit gab“, freut sich Jochum. Auch einige heutige Arten vermehren sich auf diese Weise, die sogenannte Viviparie ist aber bei dieser Gruppe der Weichtiere eher eine Ausnahme. Die Forschenden vermuten, dass die neu als Cretatortulosa gignens beschriebene Art ihre Jungen lebend zur Welt brachte, weil Eiergelege in den tropischen Wäldern der Kreidezeit vermutlich besonders häufig von Fressfeinden geplündert wurden.
„Genau wie ihre modernen Verwandten aus der Gattung Cyclophoroidea verbrachte unsere Schnecke ihr Leben wahrscheinlich unauffällig auf abgestorbenen und verrottenden Blättern. Wir gehen davon aus, dass diese Schnecken im Vergleich zu den Schlüpflingen eierlegender Schnecken kleinere und eine geringere Anzahl an Jungtieren hervorbrachten“, sagt Jochum. Unterm Strich war der Schutz durch das Austragen der Eier und die anschließende Lebendgeburt offenbar ein entscheidender Vorteil für das Überleben des Nachwuchses dieser kleinen Schnecke der Kreidezeit.
Quelle: Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen, Fachartikel: Gondwana Research, doi: 10.1016/j.gr.2021.05.006