Wenn ein Oktopus schläft, ist seine Hautfarbe die meiste Zeit blass und die Muskeln entspannt. Von Zeit zu Zeit jedoch beginnt das Tier zu zucken, zieht die Saugnäpfe zusammen, bewegt die Augen und wechselt die Farbe. Die Erklärung dafür liefert nun eine neue Studie.Demnach haben die achtarmigen Kopffüßer aktive und passive Schlafphasen, die sich periodisch abwechseln – ähnlich wie bei Menschen. Aus Sicht der Forscher ist es sogar plausibel, dass Kraken während der aktiven Schlafphasen träumen. Interessant ist das Ergebnis auch mit Blick auf die Evolution des Schlafes.
Haustierbesitzer können gelegentlich beobachten, wie ihr vierbeiniger Freund im Schlaf die Pfoten bewegt oder Laute von sich gibt. Auch für Vögel und Reptilien wurde nachgewiesen, dass sie einen sogenannten REM-Schlaf haben – die Schlafphasen, in denen Menschen am meisten träumen. Benannt ist diese Phase nach den schnellen Augenbewegungen (rapid eye movement), die dabei typisch sind. Untersuchungen an Tieren und Menschen zeigen, dass der REM-Schlaf mit Lernprozessen in Verbindung steht und eine Rolle bei der Stressbewältigung spielen könnte.
Im Schlaf weniger erregbar
Forscher um Sylvia Medeiros von der Federal University of Rio Grande do Norte in Brasilien haben nun anhand von Videobeobachtungen an vier Oktopussen belegt, dass auch sie wechselnde Schlafphasen durchlaufen: Den größten Teil ihrer schlafenden Zeit sind die Oktopusse blass gefärbt und weitgehend bewegungslos. Zwischendurch jedoch ändern sie ihre Farbe und ihre Muskeln an Körper und Saugnäpfen ziehen sich zusammen. Auch verstärkte Augenbewegungen sind in dieser Phase zu beobachten, berichten die Forscher.
Um zu verifizieren, dass es sich bei diesen aktiven Phasen tatsächlich um Schlaf handelt und die Kraken nicht einfach hin und wieder aufwachen, präsentierten die Forscher ihnen visuelle Reize: Auf einem Computerbildschirm neben dem Aquarium spielten sie ihnen Videos von Krabben vor – einer ihrer Lieblingsspeisen. Waren die Oktopusse wach, interessierten sie sich für das Video, schliefen sie dagegen, zeigten sie keine oder eine deutlich verzögerte Reaktion. Bei einem Oktopus, der auch wach nicht für das Video zu begeistern war, klopften die Forscher stattdessen mit zunehmender Intensität ans Becken. Auch hier zeigte sich: Wenn der Oktopus schlief, brauchte er deutlich stärkere Reize, bevor er reagierte. Das galt für aktive Schlafphasen sogar stärker als für passive. Offenbar handelte es sich tatsächlich um Schlaf.
Was träumen Kraken?
„Was es noch interessanter macht, ist, dass dieser ‘aktive Schlaf’ meist nach einem langen ‘ruhigen Schlaf’ auftritt – im Allgemeinen länger als sechs Minuten – und dass er eine charakteristische Periodizität hat“, sagt Medeiros Kollege Sidarta Ribeiro. Den Beobachtungen der Forscher zufolge wiederholt sich der Zyklus in etwa 30- bis 40-minütigen Abständen. Die aktiven Schlafphasen sind dabei in der Regel sehr kurz – typischerweise wenige Sekunden bis eine Minute. Auf Basis der Erkenntnisse zum REM-Schlaf bei Menschen und verschiedenen Wirbeltieren mutmaßen die Forscher, dass die Kraken während des aktiven Schlafs etwas ähnliches wie Träume erleben.
„Es ist nicht möglich zu bestätigen, dass sie träumen, weil sie uns das nicht sagen können, aber unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Krake während des ‘aktiven Schlafs’ einen Zustand analog zum REM-Schlaf erleben könnte, der der Zustand ist, in dem Menschen am meisten träumen“, sagt Medeiros. Was die Inhalte der Kraken-Träume angeht, meint sie: „Wenn Kraken tatsächlich träumen, ist es unwahrscheinlich, dass sie komplexe symbolische Handlungen erleben, wie wir es tun.“ Dafür seien die aktiven Schlafphasen zu kurz. „Wenn in diesem Zustand überhaupt geträumt wird, dann eher in Form von kleinen Videoclips oder sogar Gifs“, meint Medeiros.
Neuer Blick auf die Evolution des Schlafes
Die Entdeckung, dass Kraken verschiedene Schlafphasen haben und womöglich sogar träumen, wirft ein neues Licht auf die Evolution des Schlafs. „Der Wechsel der Schlafzustände, den wir beim Oktopus beobachtet haben, scheint dem unseren sehr ähnlich zu sein, trotz des enormen evolutionären Abstands zwischen Kopffüßern und Wirbeltieren“, sagt Medeiros. Angesichts der Tatsache, dass sich die evolutionären Linien von Oktopus und Mensch bereits vor etwa 500 Millionen Jahren getrennt haben, scheint es unwahrscheinlich, dass die verschiedenen Schlafphasen schon auf ihren letzten gemeinsamen Vorfahren zurückgehen.
„Wenn sich die verschiedenen Schlafzustände tatsächlich zweimal unabhängig voneinander bei Wirbeltieren und Wirbellosen entwickelt haben, stellt sich die Frage: Was sind die wesentlichen evolutionären Triebkräfte, die diesen physiologischen Prozess prägen?“, so Medeiros. „Die unabhängige Evolution eines aktiven Schlafs bei Kopffüßern analog zum REM-Schlaf bei Wirbeltieren könnte eine Eigenschaft widerspiegeln, die allen zentralen Nervensystemen, die eine gewisse Komplexität erreichen, gemeinsam ist.“
In zukünftigen Studien wollen die Forscher neuronale Daten von Kopffüßern aufzeichnen, um besser zu verstehen, was während ihres Schlafes vor sich geht. Außerdem möchten sie klären, welche Rolle der Schlaf für den Stoffwechsel, das Denken und das Lernen der Tiere spielt. „Es ist verlockend zu spekulieren, dass das Träumen beim Kraken, genau wie beim Menschen, helfen könnte, sich an die Herausforderungen der Umwelt anzupassen und das Lernen zu fördern“, sagt Ribeiro.
Quelle: Sylvia Medeiros (Federal University of Rio Grande do Norte) et al., iScience, doi: 10.1016/j.isci.2021.102223