Auch ein kleines Gehirn bewältigt komplexe Aufgaben: Insekten tasten sich bei schwierigen Bodenverhältnissen nicht einfach mit ihren Fühlern voran, sondern suchen mit den Augen nach sicherem Halt. Dieses bei den Säugetieren mit ihrem hoch entwickelten Gehirn übliche Vorgehen haben nun Wissenschaftler um Jeremy Niven von der University of Cambridge erstmals bei Wüsten-Heuschrecken belegt. Sie schickten die Insekten über eine kleine Leiter und filmten die Kletterpartie mit einer Hochgeschwindigkeitskamera. Auffällig war, dass die Heuschrecken plötzlich stoppten, wenn sie das Vorderbein nicht sahen, mit dem sie die nächste Sprosse erreichen wollten: Für den kritischen Schritt setzten sie das Bein ein, das sich in ihrem Sichtfeld befand.
Die raffiniert gesteuerte Fortbewegung der Insekten am Boden ist Wissenschaftlern bisher verborgen geblieben, weil sie sich auf die Rolle des Sehsinns beim Insektenflug konzentrierten. Den Forschern um Studienautor Niven fiel auf, dass Bienen oder Fliegen große Augen und kurze Fühler besitzen, herumkrabbelnde Insekten wie Grillen oder Schaben dagegen kleine Seh- und lange Tastorgane. Um herauszufinden, ob die Bodenbewohner auch ihre Augen bei der Fortbewegung verwenden, suchten sich die Wissenschaftler die Wüsten-Heuschrecke als Versuchskandidaten für ihr Leiterexperiment aus: Sie hält sich am Boden und in der Luft auf, entsprechend sind ihre Tastorgane kurz und die Augen groß ausgebildet. Beim Klettern über die Sprossen der winzigen Leiter unterliefen den Heuschrecken ebenso viele Fehltritte wie in einfachen Umgebungen. Den Grund für diese Trittsicherheit deckte die Hochgeschwindigkeitskamera auf: Die Insekten verwenden nur das Vorderbein, für das sie einen sicheren Halt sehen.
“Der Einsatz der Augen bei der Fortbewegung belegt ein Verhalten bei Insekten, das wir bisher nur bei Lebewesen mit großem Gehirn und vielschichtiger Bewegungskontrolle gefunden haben wie Mensch, Affe oder Oktopus”, erklärt Niven. “Diese Säugetiere haben mehr Neuronen in ihrem Sehsystem als die Heuschrecken in ihrem gesamten Nervensystem.” Das Beispiel belege, wie die Natur bei Lebewesen völlig verschiedene Strategien für die Lösung ähnlicher Aufgaben ausbilde.
Dass Heuschrecken mit einem höchst einfachen Mechanismus ein Straucheln verhindern, interessiert auch zwei Wissenschaftsdisziplinen jenseits der Biologie: Die Insekten gelten in der Neurologie seit über 40 Jahren als Modellorganismus für die Erforschung der Gliedmaßenkontrolle. Auch die Robotik lernt von der Insekten-Krabbelei die Tricks, wie sie Beine von mechanischen Wesen steuern muss.
Jeremy Niven (University of Cambridge, Cambridge) et al.: Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2009.10.079 ddp/wissenschaft.de ? Rochus Rademacher