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Kampf ums Kilo

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Kampf ums Kilo
Das System der sieben physikalischen Basiseinheiten wird renoviert – und das ist dringend nötig. Probleme macht vor allem das Kilogramm.

Wer kennt das nicht: Immer mal wieder zeigt die Waage im Bad ein paar mehr Kilo mehr an als erwartet. So manchen lässt die Ursache rätseln: Hat sich etwa die Waage verstellt, oder steht sie schief auf dem unebenen Fliesenboden? Während die Waage im Bad unglücklicherweise meist mehr anzeigt als sie soll, haben die Physiker das entgegengesetzte Problem: Das Urkilogramm, ein Zylinder aus Platin und Iridium, der seit 1889 im Keller eines Schlosses in Sèvres nahe Paris aufbewahrt wird, leidet an Gewichtsverlust.

Der Schwund ist allerdings schleichend, deshalb fiel er erst Mitte des vergangenen Jahrhunderts auf, als man das Urkilogramm in Paris mit Kilogramm-Normalen verglich, die in den Metrologieinstituten in aller Welt aufbewahrt werden. Seither ist die Differenz weiter gewachsen, auf heute rund 50 Millionstel Gramm, so viel wie ein Salzkorn wiegt. Dass die Vergleichsgewichte allesamt schwerer geworden sind, ist unwahrscheinlich, die Ursache liegt wohl tatsächlich beim Pariser Kilogramm-Normal.

Die Forscher rätseln, was daran zehrt. Sicher ist nur: Am Wiegeverfahren liegt es nicht, auch nicht am zu häufigen Putzen. Wahrscheinlicher ist, dass das Urkilogramm seit 1889 langsam Gase verliert, die beim Schmelzen eingeschlossen wurden. Noch rätselhafter ist, warum das nicht auch bei den Vergleichsgewichten geschieht, die teilweise zur gleichen Zeit gegossen wurden.

Wahrscheinlich wird die Ursache nie ganz geklärt – aber das ist auch gar nicht nötig. Denn die internationalen Gremien bereiten eine Neudefinition des Kilogramms vor. Das ist eine der sieben sogenannten SI-Basiseinheiten (Système International d’U nités), auf denen zahlreiche abgeleitete physikalische Größen wie Kraft, Drehmoment oder auch viele elektrische Größen basieren. Ohne sie geht nichts – weder in der Grundlagenforschung noch in der Wirtschaft, wo genaue Basiseinheiten dafür sorgen, dass überall in der Welt die Uhren gleich gehen und eine Schraube in ihre Mutter passt.

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NATURKONSTANTEN ALS RICHTER

Wenn das Kilogramm sich verändert, wackelt das ganze SI-Gebäude. 1999 hat deshalb die Generalkonferenz für Maß und Gewicht (CGPM) empfohlen, neben dem Kilogramm gleich das gesamte System einer Renovierung zu unterziehen. Ziel ist es, die sieben SI-Einheiten Sekunde, Meter, Kilogramm, Mol, Kelvin, Ampere und Candela auf die Basis von Naturkonstanten zu stellen und nicht von mehr oder weniger präzisen Messungen abhängig zu machen.

Handfestes wie ein Metallklotz in einem Safe hat darin keinen Platz mehr. Das Meter etwa wird längst nicht mehr durch den Metallstab definiert, der nur noch zu musealen Zwecken in Paris aufbewahrt wird, sondern über den Weg, den das Licht in einer 299792458stel Sekunde zurücklegt.

Der Umbau des SI-Systems ist kompliziert. Herauskommen soll dabei etwas Einfacheres als heute. Und dazu ist ein radikaler Perspektivwechsel nötig. Das zeigt das Beispiel Lichtgeschwindigkeit: Seit Ole Römer und Christian Huygens 1676 erstmals ihren Wert bestimmten, haben Physiker jahrhundertelang mit immer präziseren Messgeräten nach exakteren Werten dieser Naturkonstante gejagt – bis 1983. Dann entschied die SI-Generalkonferenz, dass die Lichtgeschwindigkeit endgültig 299 792 458 Meter pro Sekunde betragen soll.

Schluss mit der WILLKÜR

Damit hat das Gremium aber nicht die Naturkonstante neu definiert. „Die Naturkonstanten wurden uns von Gott geschenkt”, sagt Ian Mills, ehemaliger Metrologie-Professor an der University of Reading und einer der Wortführer der Reformbewegung. Das Gremium hat der Konstanten lediglich einen Zahlenwert zugeordnet. Die Ziffernfolge könnte auch anders lauten – letztlich ist die Zuordnung willkürlich. 1983 geschah dabei ein wichtiger Paradigmenwechsel: Vorher änderte sich der Wert der Lichtgeschwindigkeit mit jeder Messung, und auch, wenn sich die Definitionen für Länge oder Zeit änderten. Damit ist seit 1983 Schluss: Die Lichtgeschwindigkeit ist fix, und das Meter wird daraus abgeleitet.

Diese Logik soll künftig für alle SI-Einheiten gelten. Die entsprechenden Naturkonstanten erhalten ein für alle Mal einen festen Wert, der sich in vielen Messungen bewährt hat, und dienen dann als Basis für die SI-Einheiten.

Diesen bedeutenden Schritt hat die CGPM bei ihrer letzten Sitzung im Oktober 2011 in einer Resolution zusammengefasst. Darin heißt es: „Das internationale Einheitensystem, kurz SI, wird das Einheitensystem sein, in dem (…) die Lichtgeschwindigkeit c im Vakuum exakt 299792458 Meter pro Sekunde beträgt, (…) die Planck-Konstante h exakt 6,626 06X · 10–3 4 Joulesekunden beträgt.” (Genaueres dazu im Kasten „Gut zu wissen: Das SI-System”.)

Wer sich frühere Definitionen anschaut, wundert sich. Sie waren eher Experimentieranleitungen dafür, wie man die SI-Einheiten bestimmt. In der neuen Definition tauchen die SI-Einheiten selbst gar nicht mehr auf. Sie ergeben sich als Ableitungen aus Naturkonstanten beziehungsweise aus gut reproduzierbaren Messungen, etwa der Schwingung von Atomen zur Bestimmung der Zeit. Die Naturkonstanten geben den Rahmen vor, die SI-Einheiten haben sich darin einzufügen.

EIN KILO MUSS EIN KILO BLEIBEN

Das ist leichter gesagt als getan. Denn das SI-System hat über 200 Jahre auf dem Buckel. Seine Anfänge reichen bis in die Französische Revolution zurück. Heute ist es die Basis für die industrielle Entwicklung und den globalen Handel. Ein Kilo an der Supermarktwaage muss auch künftig ein Kilo bleiben.

Fingerspitzengefühl ist also gefragt, damit die Steine des neuen SI-Puzzles perfekt ineinander passen. Deshalb können die Gremien nicht einfach beliebige Werte für die Naturkonstanten festlegen, sondern müssen diese wiederum aus möglichst präzisen physikalischen Messungen ableiten. Für das Meter, die Sekunde und die Candela ist das bereits geschehen. Nachholbedarf gibt es beim Kelvin, beim Ampere und besonders beim Kilogramm, weil es in so vielen anderen Einheiten steckt.

Voneinander unabhängig sind im SI-System nur die Einheiten Kilogramm, Sekunde und Kelvin. Die anderen vier SI-Einheiten Meter, Mol, Ampere und Candela und viele weitere Messgrößen in der Wissenschaft und Technik lassen sich daraus ableiten – allerdings nur mit krummen Umrechnungsfaktoren. So ist die Candela als Maß für die Lichtstärke keine unbedingt notwendige Einheit, sie reduziert aber den Messaufwand in der Beleuchtungsindustrie enorm.

In der Praxis wären die neu definierten SI-Einheiten übrigens auch dann nicht gefährdet, wenn sich herausstellen sollte, dass die Naturkonstanten nicht vollkommen konstant sind (siehe Kasten „ Wie konstant sind die Naturkonstanten?”). Bei der am genauesten messbaren Größe im SI, der Zeit, wäre eine Änderung der sogenannten Feinstrukturkonstanten innerhalb einiger Jahre nachweisbar. Das wäre eine Sensation, denn dann wären manche Naturkonstanten eben nicht konstant! Bei den elektrischen Einheiten oder dem Kilogramm ist die Messunsicherheit größer. Falls es eine Drift gäbe, wäre sie so gering, dass das praktisch keine Rolle spielen würde. Und wenn sich die Konstanten nur kurz nach dem Urknall verändert haben, wie manche Hypothesen vorschlagen, dann hätte sich das Problem ohnehin seit rund 13 Milliarden Jahren erledigt.

Mit der Neudefinition des SI-Systems will die CGPM gleich noch einen weiteren Knoten durchschlagen – den vom Ampere. Die Einheit für die Stromstärke hat es als einzige elektrische Größe unter die SI-Basiseinheiten geschafft. Es sorgt wie die Candela dafür, dass sich elektrische Einheiten wie das Volt (Spannung) oder das Ohm (Widerstand) ohne komplizierte Umrechnungsfaktoren bestimmen lassen.

Ein NOBELPREIS und seine Folgen

Bis in die 1990er-Jahre schlug man sich bei der Definition des Amperes mit einer nicht praktikablen Messmethode herum, die auf der Kraft zwischen zwei hypothetisch unendlich langen Stromleitern beruht. Dann kamen zwei Paukenschläge: Mit dem Josephson-Effekt ließ sich mit einem Mal die elektrische Spannung extrem genau messen. Und der Quanten-Hall-Effekt erlaubt eine äußerst präzise Bestimmung des elektrischen Widerstands.

„Die beiden Effekte üben seitdem großen Druck auf das klassische SI-System aus”, sagt Klaus von Klitzing. Der Professor am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart hatte den Quanten-Hall-Effekt entdeckt und dafür 1985 den Physik-Nobelpreis erhalten. Plötzlich war es möglich, Effekte zu messen, die von Natur aus immer exakt das gleiche Ergebnis liefern. Damit tat sich bei den elektrischen Einheiten quasi eine SI-Parallelwelt auf.

Was tun? Auch von Klitzing plädiert für ein neues SI-System, das auf Naturkonstanten beruht. In den Josephson- und Von-Klitzing-Konstanten stecken die elektrische Elementarladung und das Plancksche Wirkungsquantum. Und weil die Einheit Ampere auf dem Kilogramm beruht, können die Physiker eine bequeme Brücke zwischen der elektrischen und der mechanischen Welt schlagen.

„Wir holen die elektrischen Einheiten zurück ins SI-System”, sagt von Klitzing, der einst als Student an der TU Braunschweig in den Semesterferien an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) jobbte. Sie ist in Deutschland Hüterin der SI-Einheiten und oberste Metrologiebehörde.

Heute ist von Klitzing stellvertretender Vorsitzender des PTB-Kuratoriums und ein wichtiges Aushängeschild der Bundesanstalt. Er unterstützt die PTB-Politik, das Kilogramm über die Planck-Konstante neu zu definieren.

Bei der messtechnischen Realisierung favorisiert der Nobelpreisträger eine elektrisch-mechanische Versuchsanordnung, die sogenannte Wattwaage, die zahlreiche Metrologie-Institute weltweit nutzen. Die PTB und ihre Partner setzen dagegen auf das Zählen von Atomen, um die Planck-Konstante dingfest zu machen. Inzwischen ist ein Wettlauf entbrannt, der für Laien allerdings eher einem Schneckenrennen gleicht, denn die Projekte ziehen sich zum Teil schon über Jahrzehnte hin.

EINE ZAHL MIT 23 STELLEN

Erste Ideen zum „Avogadro-Projekt” gab es an der PTB bereits 1968. Es geht darum, die Avogadro-Konstante zu bestimmen, also die Zahl der Atome in einem Mol eines Stoffs – eine unvorstellbar große Zahl mit 23 Stellen. Dazu messen Kollegen am italienischen Metrologie-Institut INRIM die Atomabstände – und damit die Zahl der Atome pro Volumen – in einer Siliziumkugel. Die darf nicht mit anderen Substanzen verunreinigt sein. Und sie muss völlig rund sein, damit man das Volumen exakt bestimmen kann. Nur zwei solche Wunderkugeln gibt es in der PTB. Seit 2003 läuft das Projekt. Man hat die Messunsicherheit immer weiter gesenkt, ist aber noch ein Stück von der Ungenauigkeit entfernt, die das CGPM maximal erlaubt.

Nun muss man noch das Volumen der Kugel messen. Das ist die schwierige Aufgabe von Arnold Nicolaus an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Denn die Unsicherheiten der Volumenmessung sind relativ groß. Die graue Kugel sieht unglaublich rund aus. Versetzt man sie in Rotation, bemerkt man gar nicht, dass sie sich dreht, weil die Oberfläche so ebenmäßig ist. Doch das täuscht: Computerbilder der Messung zeigen Berge und Gräben entlang der Kristallebenen. Die Bilder sind stark überzeichnet, denn die Höhenabweichungen auf der Kugel wären auf die Größe der Erde übertragen lediglich drei Meter hoch. Und das ist schon zu viel. Und so tüftelt Nicolaus an einem verfeinerten Interferometer, das mittels reflektierter Lichtstrahlen die Dimensionen der Kugel auf wenige Zehntel Nanometer genau messen kann.

Derweil hat Horst Bettin, Leiter des Avogadro-Projekts an der PTB, ganz andere Sorgen. Die beiden Siliziumkugeln des Avogadro-Projekts wurden in einem jahrelangen, teuren Prozess gefertigt: Russische Kollegen steuerten hochreines Silizium-28 bei, das in Berlin zum Einkristall gezogen und in Australien rund geschliffen und auf 50 Nanometer genau poliert wurde. Zusammen sind sie 1,2 Millionen Euro wert. Sie gehören mehreren Partnern, die zu Beginn des Projekts einen Vertrag unterschrieben haben, dass keiner die anderen Partner belangen kann, wenn den Kugeln etwas zustößt. Dieser Vertrag ist im März 2011 ausgelaufen. Ließe Bettin oder einer seiner Kollegen die Kugeln auf den harten Laborboden knallen, zöge das hohe Schadenersatzforderungen nach sich. Also stehen die Arbeiten erst mal still. Bettin seufzt: „ Ich bin Physiker, kein Jurist.” Die Zeit, bis ein neuer Vertrag vorliegt, will das Team nutzen, um die Messtechnik zu verfeinern und einige neue Ideen zu verfolgen, etwa wie die Verunreinigungen auf der Kristalloberfläche, die vom Schleifen herrühren, beseitigt werden können.

Konkurrenz UM DAS RICHTIGE MASS

Doch die Konkurrenz ist nicht schneller. Fünf Institute weltweit setzen auf die Wattwaage, die auch Klaus von Klitzing favorisiert. Sie balanciert die Gewichtskraft eines Metallklotzes mit der Kraft einer stromdurchflossenen Spule in einem Magnetfeld. Das Experiment verknüpft also direkt die sehr genau messbare elektrische mit der nicht ganz so präzise auszulotenden mechanischen Welt. Allerdings liegen alle Experimente bei der Genauigkeit hinter dem Avogadro-Projekt zurück.

Sowohl das Avogadro-Team an der PTB als auch die Befürworter der Wattwaage sind optimistisch, die geforderten Messunsicherheiten zu unterbieten. Beide Lager hatten dafür 2015 angepeilt. Dann sollte turnusgemäß die nächste Sitzung des CGPM anstehen. Doch wegen einer bevorstehenden Evaluation des Internationalen Büros für Maß und Gewicht, das die CGPM-Beschlüsse umsetzt, wurde die nächste Sitzung ein Jahr vorgezogen. „Das ist sehr knapp”, findet Horst Bettin.

Das Gremium hat schon klargemacht, dass bei der Neudefinition des Kilogramms und beim Umbau des SI nichts übers Knie gebrochen wird. Erst wenn das Kilogramm klar definiert ist, wird der Akt vollzogen. Voraussetzung dafür ist, dass mindestens drei unabhängige Experimente deckungsgleiche Ergebnisse liefern. Auch wenn das PTB-Team als Erstes durchs Ziel gehen sollte, bleibt das Kilogramm so lange in der Schwebe, bis die Diskrepanzen zu den Wattwaage-Experimenten beseitigt sind.

Bald IM VISIER: DIE SEKUNDE

Und auch dann ist die Arbeit noch nicht getan. Denn dasselbe Problem haben die Physiker mit der Einheit der Temperatur, dem Kelvin. Es soll über die Boltzmann-Konstante definiert werden. Das National Institute of Standards and Technology (NIST), das US-amerikanische PTB-Pendant, hat mit einem akustischen Gasthermometer bereits vor 23 Jahren die geforderte Genauigkeit erreicht. Es misst die Temperatur über die Schallgeschwindigkeit in einem Gas. Doch auch hier muss ein zweites Experiment mit einem anderen Messkonzept den Wert der Boltzmann-Konstanten bestätigen. Die PTB-Labors in Berlin wollen das mit einem dielektrischen Gasthermometer erreichen, das die Temperatur über die Änderungen der Kapazität in einem Kondensator misst.

Mit der Neudefinition des Kilogramms, des Kelvins und des Amperes wäre der Umbau des SI-Systems abgeschlossen. Spätere Renovierungen sind allerdings nicht ausgeschlossen. Der nächste Kandidat ist die Sekunde. Sie ist derzeit über eine bestimmte Schwingungsfrequenz von Cäsium-133-Atomen definiert. Die Frequenz liegt bei gut neun Gigahertz, also im Mikrowellenbereich. Je höher die Frequenz, umso genauer tickt die Uhr. Deshalb nutzen die genauesten Uhren Signale im optischen Spektrum. Möglich macht das die Erfindung des Frequenzkamms durch den Nobelpreisträger Theodor Hänsch, Professor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching.

„Die Sekunde wird in den nächsten zehn Jahren neu definiert”, verspricht Ernst Göbel, der zum Jahreswechsel als PTB-Präsident in den Ruhestand gegangen ist. Der Druck zum Handeln ist allerdings gering, denn die neue Sekundendefinition zöge keine prinzipiellen Änderungen am SI-System nach sich.

Für Anwendungen wäre sie freilich sehr interessant. Mit noch genaueren Uhren könnte man zum Beispiel den Gangunterschied von Uhren messen, die im Gravitationsfeld der Erde bei nur wenigen Zentimetern Höhenunterschied auftreten – ein Effekt, den die Allgemeine Relativitätstheorie vorhersagt. Sie besagt auch, dass eine Waage auf einem Berg geringfügig weniger anzeigt. Aber ein Urlaub in den Bergen löst natürlich keine Gewichtsprobleme – und die Neudefinition des Kilogramms nützt auch nichts. Beim Kampf gegen die Pfunde hilft nur eine Diät. ■

BERND MÜLLER ist freier Wissenschaftsjournalist. Der frühere bdw-Physikredakteur verfolgt die SI-Diskussionen seit Jahren mit Spannung.

von Bernd Müller

Gut zu wissen: Das SI-System

Das internationale Einheitensystem, kurz SI (Système International d’Unités), wurde 1960 auf der 11. Sitzung der Generalkonferenz für Maß und Gewicht (CGPM) beschlossen. Sie tagt normalerweise alle vier Jahre. Die Umsetzung der Beschlüsse erfolgt durch das Internationale Büro für Maß und Gewicht (BIPM). Es wurde 1875 mit der Unterzeichnung der Meter-Konvention gegründet und steht unter der Aufsicht des Internationalen Komitees für Maß und Gewicht (CIPM). Das SI-System ist in den meisten Industriestaaten gesetzlich vorgeschrieben – außer in den USA, wo es in der Wissenschaft und Industrie aber weit verbreitet ist.

Im SI gibt es sieben Basiseinheiten, von denen sich alle anderen physikalischen Einheiten ableiten. Es vereinheitlicht Maße und Schreibweisen. Die erste Generalkonferenz legte 1889 Meter, Sekunde und Kilogramm als Basiseinheiten fest. Als vorerst letzte Basiseinheit kam 1971 das Mol hinzu.

Laut der CGPM-Resolution vom 1. Oktober 2011 (im Internet: www.bipm.org) sind die SI-Basiseinheiten künftig folgendermaßen definiert:

Das internationale Einheitensystem wird auf grundlegenden Naturkonstanten beruhen (siehe Kästen rechts: „Das alte und das neue Fundament” und „Die Maße aller Dinge”). Im neuen SI-System beträgt

· die Übergangsfrequenz der Hyperfeinstrukturniveaus im Grundzustand des Atoms Cäsium-133 exakt 9 192 631 770 Hertz,

· die Lichtgeschwindigkeit c im Vakuum exakt 299 792 458 Meter pro Sekunde,

· die Planck-Konstante h exakt 6,62606X · 10–34 Joule- sekunden,

· die Elementarladung e exakt 1,60217X · 10–19 Coulomb,

· die Boltzmann-Konstante k exakt 1,3806X · 10–23 Joule pro Kelvin,

· die Avogadro-Konstante NA exakt 6,02214X · 1023 pro Mol

· und die Lichtstärke Kcd monochromatischer Strahlung mit der Frequenz 540 · 1012 Hertz exakt 683 Lumen pro Watt.

Die Nachkommastelle X ist bislang noch nicht genau gemessen worden.

Wie konstant sind die Naturkonstanten?

Diese Frage beschäftigt Physiker, seit Paul Dirac 1937 über eine zeitliche Änderung der Gravitationskonstanten spekulierte. Die Stringtheorie, die die Quantenphysik und die Allgemeine Relativitätstheorie vereinigen soll, erlaubt Naturkonstanten, die sich mit der Zeit verändern. Die Größe dieser Drift ist aber unklar.

Nahrung erhielt das Thema 1999, als Astrophysiker Anzeichen dafür entdeckten, dass die Feinstrukturkonstante in der Frühzeit des Universums einen anderen Wert hatte als heute. Diese Konstante kommt in vielen elektrischen und atomaren Effekten vor. Sie ist dimensionslos, also eine reine Zahl ohne eine SI-Basiseinheit. Extrem genaue Experimente mit unterschiedlich getakteten Atomuhren zeigen, dass die Drift der Feinstrukturkonstante – sofern überhaupt vorhanden – unter 10–16 pro Jahr liegen muss. Das ist ein genauerer Wert, als ihn die Astrophysiker liefern können. Das heißt allerdings nicht, dass deren Messung falsch sei, sagt Ekkehard Peik, Fachbereichsleiter Zeit und Frequenz an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt: „ Ein Labor in Braunschweig ist etwas anderes als interstellare Materie kurz nach dem Urknall.”

Eine weitere interessante, weil dimensionslose Konstante ist das Massenverhältnis von Proton und Elektron. Dies lässt Rückschlüsse auf die starke Kraft zu, die Atomkerne zusammenhält. Auch hier fand man keine Veränderung – ebenso wenig bei der Gravitationskonstante, die sich über die Entfernung Erde–Mond bestimmen lässt. Allerdings sind diese Messungen nicht so genau wie die der Feinstrukturkonstante.

Einen neuen Anlauf wollen Physiker nun mit „Kernuhren” nehmen. Das Isotop Thorium-229 sendet Licht im optischen Spektralbereich aus – bei einem Übergang im Kern. Das würde Abweichungen der Feinstrukturkonstanten von unter 10–21 pro Jahr sichtbar machen. Noch ist das Experiment nicht geglückt.

Kompakt

· Internationale Gremien haben beschlossen, das SI-Einheitensystem zu überarbeiten und auf der Basis von Naturkonstanten zu definieren.

· Um die Neudefinition der Einheit „Kilogramm” konkurrieren zwei Konzepte. Eines davon stammt von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig.

Mehr zum Thema

Lesen

Gut verständliche Einführung zu den Naturkonstanten: John D. Barrow Das 1 x 1 des Universums Rowohlt Reinbek bei Hamburg, 2006

Internet

Internationales Büro für Maß und Gewicht mit Informationen zur SI-Definition: www.bipm.org

Physikalisch-Technische Bundesanstalt: www.ptb.de

Themensammlung zu den SI-Einheiten: www.ptb.de/cms/index.php?id= geschichte-si

Kongress zu Fundamentalkonstanten und Astrophysik mit diversen Vorträgen: www.acfc2011.ptb.de/acfc2011/acfc2011-home.html

Ohne Titel

Es gibt sieben SI-Basiseinheiten, von denen in der Praxis alle weiteren physikalischen Größen abgeleitet werden. Vier der sieben werden künftig neu definiert. Für Länge, Zeit und Lichtstärke ändert sich nichts. Die vier anderen Einheiten sollen in Zukunft auf Naturkonstanten beruhen wie schon das Meter. Dabei wird jeweils der Wert einer Konstante festgelegt und daraus die SI-Einheit abgeleitet. Beispiel: Das Plancksche Wirkungsquantum hat die Einheit Joule mal Sekunde (Js), was sich in die Einheit Meter im Quadrat mal Kilogramm pro Sekunde (m2kg/s) umrechnen lässt. Daraus ergibt sich der Wert fürs Kilogramm. Ein „X” in den Messwerten der Naturkonstanten bedeutet, dass hier noch eine oder mehrere Stellen hinter dem Komma unsicher sind. Sie müssen vor der Neudefinition durch unabhängige Experimente bestimmt werden.

Das alte und das neue Fundament

Die sieben Basiseinheiten des Système International d’Unités (SI) hängen mitein- ander zusammen. Links die Beziehungen nach der aktuellen Definition, rechts nach der geplanten Neudefinition. Beispiel: In der Neudefinition wird das Meter (m) in die Einheiten Candela (cd), Kelvin (K) und Kilogramm (kg) eingehen. So hat das Plancksche Wirkungsquantum, das als Grundlage für die Definition des Kilogramm dienen soll, die Einheit m2 kg/s. Die Zahlen geben die maximalen Abweichungen an, mit denen die Basiseinheiten experimentell realisiert werden sollen.

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