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Ikone der Evolutionsforschung „entlarvt“

Neunauge

Ikone der Evolutionsforschung „entlarvt“
Dem Ruf als lebendes Fossil werden die Neunaugen nicht mehr ganz so gerecht wie bisher. (Bild: Arsty/iStock)

Blinde, wurmartige Planktonfresser: Die wurmförmigen Larven der fischähnlichen Neunaugen galten bisher als Relikte aus der Urzeit der Wirbeltier-Evolution. Doch nun zeigen Fossilien, dass die scheinbaren Primitivlinge keine Urform darstellen, sondern eine Neuentwicklung. Demnach ähnelten die Larven der frühen Formen der Neunaugen noch den erwachsenen Tieren. Offenbar brachten sie die wurmartigen Jungtiere erst später als eine Anpassung an das Leben in Flüssen hervor. Die Neunaugen sind somit nicht ganz die schwimmenden Zeitkapseln, für die wir sie gehalten haben, sagen die Forscher.

Uralt und ausgesprochen skurril: Die Neunaugen sind fischähnliche Wirbeltiere, die Fossilienfunden zufolge ihren primitiv wirkenden Körperbau seit Urzeiten kaum verändert haben. Sie besitzen einen aalartigen Körper, aber statt Kiefern nur ein rundliches Maul, das mit Zähnchen besetzt ist. Damit heften sie sich an Fische und zapfen ihnen das Blut ab. Entgegen der deutschen Bezeichnung besitzen auch die Neunaugen nur zwei Augen. Der Name geht auf sieben Kiemenspalten, eine Nasenöffnung und das Auge zurück, die seitlich betrachtet zusammen wie neun Sehorgane erscheinen. Die Neunaugen werden den Wirbeltieren zugerechnet, da sie verschiedene Grundmerkmale mit ihnen gemeinsam haben. So besitzen sie vor allem ein Skelett aus Knorpel.

Neben ihren urtümlich wirkenden Eigenschaften, galt bisher vor allem der ungewöhnliche Lebenszyklus der Neunaugen als ein Gruß aus der Frühzeit der Wirbeltierevolution. Nach dem Schlüpfen vergraben sich die augenlosen Larven (Ammocoetes) der heutigen Neunaugen im Flussbett und filtern dort mit borstenartigen Strukturen Nahrungspartikel aus dem Wasser. Erst später verwandeln sie sich dann in die fischartigen Blutsauger. Die Larven unterscheiden sich so sehr von den erwachsenen Tieren, dass Wissenschaftler sie ursprünglich sogar für verschiedene Lebewesen hielten. Später wurden die scheinbar primitiven Larven dann als ein Relikt aus der Entwicklungsgeschichte betrachtet.

Scheinbar urtümliche Larven

“Sie schienen so primitiv, vergleichbar mit wurmartigen Wirbellosen, dass ihre Eigenschaften perfekt zu den Vorstellungen über die Evolution der Wirbeltiere passten. Die modernen Neunaugenlarven wurden deshalb als Modell für den Urzustand verwendet, aus dem die Wirbeltierlinien entstanden sind”, sagt Tetsuto Miyashita von der University of Chicago. „Bisher gab es allerdings keine Beweise dafür, dass eine solch rudimentäre Form bis an den Anfang der Wirbeltierevolution zurückreicht.” Wie Miyashita und seine Kollegen nun zeigen konnten, ist das offenbar auch nicht der Fall.

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Fossil eines Schlüpflings einer Neunaugenart aus dem Devon vor etwa 360 Millionen Jahren im Größenvergleich mit einer Münze. (Bild: Tetsuto Miyashita)

Ihre Ergebnisse basieren auf der Untersuchung von neu entdeckten Neunaugenfossilien samt Jungtieren, die zu vier ausgestorbenen Arten gehörten. Sie wurden an Fundorten in Südafrika und den USA entdeckt und auf ein Alter zwischen 310 und 360 Millionen Jahre datiert. Im Rahmen ihrer Untersuchungen konnten die Forscher zeigen, dass die kleinsten Individuen noch einen Dottersack trugen, was darauf hinweist, dass es sich um gerade erst geschlüpft Jungtiere gehandelt hat. Die detaillierten Untersuchungen enthüllten dann, dass diese Schlüpflinge bereits große Augen besaßen sowie den typischen gezähnten Saugnapf. Sie ähnelten damit bereits den erwachsenen Tieren. Dies steht somit im deutlichen Kontrast zu den heutigen Neunaugen, die als blinde, wurmartige Larven schlüpfen.

Innovation statt Relikt

“Wir fanden Exemplare, die den Weg vom Schlüpfen bis zum erwachsenen Tier abbilden”, sagt Co-Autor Michael Coates. Wie die Forscher hervorheben, handelte es sich bei den Spezies um Vertreter unterschiedlicher Entwicklungslinien der Neunaugen. “Sie zeigen alle das gleiche Muster: Die Larvenform war wie ein Miniatur-Erwachsener”, sagt Coates. Somit ist klar: Das Larvenstadium der heutigen Neunaugen ist nichts Urtümliches, sondern offenbar eine Weiterentwicklung im Verlauf der späteren Evolution dieser Lebewesen. Der merkwürdige Lebenszyklus der Neunaugen kann somit auch keine Einblicke in die Entwicklungsgeschichte der Wirbeltiere bieten, sagen die Forscher.

Doch warum haben die Neunaugen dieses seltsame Larvenstadium hervorgebracht? Die Paläontologen vermuten, dass die filtrierenden Jungtiere eine Anpassung gewesen sein könnten, die es den Neunaugen ermöglichte, Flüsse und Seen zu besiedeln. Die fossilen Neunaugen, über die in der neuen Studie berichtet wird, stammen alle aus marinen Sedimenten. Doch viele moderne Neunaugen leben im Süßwasser oder wandern erst als erwachsene Tiere ins Meer. Für die marinen Neunaugen der Vergangenheit wären Flüsse und Seen wegen des begrenzten und unvorhersehbaren Angebots an Beute ein eher problematischer Lebensraum gewesen, vermuten die Forscher. “Die Neunaugen lösten dieses Problem, indem sie Larven hervorbrachten, die sich im Sand eingruben und sich alle verfügbaren Nahrungspartikel schnappten, bis sie reif genug waren, um sich auf die Suche nach Beute mit Blut zu machen”, erklärt Miyashita. “Aber für diese Art von Lebensstil mussten die Larven nicht allzu kompliziert gebaut sein. Obwohl Neunaugen also diese filtrierende Larvenphase neu erfunden haben, sahen die Larven selbst ursprünglich aus. Bis jetzt haben wir diese Einfachheit deshalb als Urtümlichkeit fehlinterpretiert”, so der Paläontologe.

Sein Kollege Coates sagt dazu abschließend: “Neunaugen sind also nicht ganz die schwimmenden Zeitkapseln, für die wir sie gehalten haben. Nach wie vor bleiben sie aber wichtig, um die tiefe Geschichte der Wirbeltierentwicklung zu verstehen. Wir müssen jedoch berücksichtigen, dass auch die Neunaugen sich auf ihre spezielle Weise entwickelt und spezialisiert haben”, sagt der Wissenschaftler.

Quelle: University of Chicago Medical Center, Fachartikel: Nature, doi: 10.1038/s41586-021-03305-9

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